6.3 These – Antithese 1: Entscheidungsfreiheit oder -zwang?
In These 1 (vgl. Kap. 3) wird die Annahme formuliert, dass die Methoden der Reproduktionsmedizin von den Paaren als individueller Zuwachs ihrer reproduktiven Möglichkeiten betrachtet werden. Demgegenüber steht die Antithese 1, dass tradierte Vorstellungen über Fortpflanzung und Weiblichkeit oder gesellschaftliche Normen einen Handlungsdruck ausüben, die medizinisch assistierte Fortpflanzung bei Unfruchtbarkeit zu nutzen, da diese nicht mehr als naturgegebenes Schicksal hingenommen werden kann. In diesem Sample begründeten die Paare ihre Entscheidungen zur Kinderwunschbehandlung meist damit, dass sie die Möglichkeiten der Reproduktionsmedizin nutzen wollten bzw. nutzten, um eine Familie mit einem leiblichen Kind zu gründen. Die Reproduktionsmedizin wurde als mögliche Lösung eines medizinischen Problems (Fertilitätsstörung) gesehen, die sich nicht von anderen medizinischen Therapien oder Behandlungen unterscheidet (vgl. Kap. 2.3.1, 5.4.1). Wie bereits angesprochen, war diese Art der Familienbildung für die Paare mit einer natürlichen Familiengründung vergleichbar, da eine Schwangerschaft erlebt und ein genetisch verwandtes Kind gezeugt werden kann (vgl. Kap. 5.3). Aus diesen Gründen bevorzugten sie eine Kinderwunschbehandlung gegenüber einer Adoption, und weil eine Adoption mit höheren finanziellen Kosten verbunden ist (vgl. 5.3). Diese Ergebnisse decken sich mit denen von Onnen-Isemann (2000, o. J.) und Siegel et al. (2008, vgl. Kap. 2.1.2).
Dem Paar, das sich den Kinderwunsch mithilfe der DI erfüllte, wurde von der Klinik angeboten, Spendersamen aus Dänemark zu beziehen. Dadurch erweiterten sich dessen Handlungs- und Entscheidungsspielräume: Es bestand die Möglichkeiten, den Spender anhand einiger Kriterien und Merkmale auszuwählen, die für das Paar bedeutend waren (z. B. Motivation zur Samenspende, Bildungsabschluss), weil Informationen über Eigenschaften und Einstellungen des Spenders in Erfahrung gebracht werden konnten, die dem Paar bei einer Samenspende aus Deutschland nicht vorgelegen hätten (vgl. Kap. 5.3). Alle Paare betonten, dass die Entscheidungen über die Art der Familiengründung von ihnen und nicht durch Institutionen, Druck aus dem familiären und sozialen Umfeld, gesellschaftliche Normen oder gesetzliche Regelungen bestimmt werden dürfe. Sechs Paare akzeptierten darüber hinaus die in Deutschland nicht erlaubten Fortpflanzungstechnologien wie Leihmutterschaft oder Eizellenspende. Dabei plädierten sie aber für einen verantwortungsvollen Umgang: So dürfe man diese nur anwenden, wenn eine medizinische Indikation bestünde bzw. eine Fertilitätsstörung vorläge (vgl. Kap. 5.2, 6.5).
Wenige Hinweise deuten auf Antithese 1 hin: Nur eine Interviewpartnerin verspürte einen normativen Druck aus dem sozialen Umfeld, der bei ihr den Kinderwunsch verstärkte. Vier Frauen gaben an, dass Mutterschaft zur weiblichen Identität gehöre, wovon zwei aufgrund der körperlichen Dysfunktionalität Schuldgefühle gegenüber ihren Partnern entwickelten. Diese Interviewpartnerinnen nahmen die eigene Unfruchtbarkeit oder die des Partners nicht als Schicksal hin, selbst wenn sie zunächst aufgrund religiöser Einstellungen geneigt waren, dies zu tun. Ihre Aussagen lassen nicht darauf schließen, dass ein gesellschaftlicher Zwang wirkte, die Kinderwunschbehandlung in Anspruch zu nehmen. In diesem Sample gibt es zudem wenig Hinweise darauf, dass Frauen, die eine Unfruchtbarkeitsbehandlung zur Familiengründung beanspruchen müssen, so lange psychisch sowie physisch belastende Versuche unternehmen, bis diese erfolgreich sind. Nur zwei Befragte gaben an, sich keine Grenze hinsichtlich der Anzahl der Behandlungszyklen gesetzt zu haben, sie aber auf ihre finanzielle Ressourcen achten wollten. Es muss beachtet werden, dass sich bei diesen beiden Interviewpartnerinnen der Kinderwunsch mithilfe der IVF bzw. IVF und KT jeweils nach sechs Versuchen erfüllte. Daher bleibt ungeklärt, wie viele Behandlungszyklen die Befragten noch durchlaufen hätten bzw. welche Bedingungen für das Beenden der Behandlung verantwortlich gewesen wären. Bei dem überwiegenden Teil bestimmten die finanziellen Ressourcen die Anzahl der Behandlungsversuche, welche die Paare bereit waren, zu durchlaufen. Ferner hätten einige Befragte die Behandlung abgebrochen, wenn sich die Belastungen der Behandlung negativ auf die Paarbeziehung ausgewirkt hätte (vgl. Kap. 2.1.2., 5.3, 5.4.3). Zusammenfassend zeigt sich, dass, wie in Synthese 1 angegeben, die meisten Paare die Fortpflanzungstechnologien zur Familiengründung akzeptieren und als Zuwachs der individuellen reproduktiven Möglichkeiten betrachten und kaum gesellschaftlichen Erwartungen nachgehen.