6.7 These – Antithese 5: Gesundes Kind – Wunsch oder Zwang?
These 5 (vgl. Kap. 3) enthält die Annahme, dass die Fortpflanzungstechnologien Erwartungen und Begehrlichkeiten von potenziellen Eltern nach einem gesunden Kind wecken und dass die PID und deren Ausweitung auf nicht-krankheitsrelevante Merkmale von Paaren befürwortet wird. Demgegenüber steht Antithese 5, die postuliert, dass durch Fortschritte im Bereich der PND für werdende oder potenzielle Eltern der Druck steigt, die PND in Anspruch zu nehmen, weil sich eine gesellschaftliche Pflicht zum unbehinderten Kind entwickelt. In dieser Stichprobe nahmen die meisten Paare konventionelle und nicht-invasive PND in Anspruch. Im Gegensatz zu den Beobachtungen von Krüger (2004), dass Frauen zunehmend eine Amniozentese vornehmen lassen, weil sie denken, dadurch verantwortungsvoll zu handeln, zeigt sich in dieser Stichprobe, dass nahezu alle Interviewpartnerinnen diese Untersuchung aufgrund des hohen Fehlgeburtsrisikos ablehnten, selbst wenn damit Behinderungen festgestellt werden können, die z. B. mithilfe der Sonografie nicht diagnostizierbar sind. Vielen Paaren war bewusst, dass die PND keine Garantien auf ein gesundes Kind geben können, weil es sich bei den Ergebnissen dieser Diagnostiken nur um Wahrscheinlichkeitsaussagen handelt und keine Aussagen über das Ausmaß sowie die Entwicklung der Erkrankungen getroffen werden können. Dies weist darauf hin, dass die Paare nicht zwangsläufig ein gesundes Kind erwarteten. Die Mehrzahl der Paare lehnten einen Schwangerschaftsabbruch ab, wenn behandelbare Krankheiten diagnostiziert würden oder die Wahrscheinlichkeit hoch sei, dass leichte körperliche oder geistige Behinderung vorlägen (vgl. Kap. 5.6.1). Die Aussagen deuten nicht darauf hin, dass die Paare eine Pflicht zum unbehinderten Kind wahrnehmen oder eine Schwangerschaft auf Probe eingehen. Nur zwei Befragte äußerten, ein Sicherheits- und Planungsbedürfnis zu haben und die Geburt eines kranken oder behinderten Kindes vermeiden zu wollen (vgl. Kap. 2.1.5, 5.6.1).
Die meisten Paare gaben an, dass sie sich zu einem Schwangerschaftsabbruch entschließen würden, wenn das Kind mit hoher Wahrscheinlichkeit im Mutterleib, nach der Geburt oder im frühen Kindesalter sterben werde, wenn kein selbstbestimmtes Leben für das Kind möglich sei oder wenn es nur mit medizinischen Maßnahmen am Leben erhalten werden könne. Dabei argumentierten die Befragten, dass sie ihrem Nachwuchs ein Leben mit einer starken Behinderung nicht zumuten wollen, dass sie ihr Kind nicht leiden sehen möchten und dass die den Verlust ihres Kindes nicht erleben möchten. Nur ein Paar wies darauf hin, dass bestimmte Erkrankungen und Behinderungen die Partizipation am gesellschaftlichen Leben beeinträchtigen und dass behinderte Menschen gesellschaftlich benachteiligt werden. Dieses Paar gab an, eine Abtreibung bei schweren geistigen und körperlichen Behinderungen in Betracht zu ziehen, weil es negative Erfahrungen mit einer Familie mit einem schwerbehinderten Kind machte. Sechs Paare lehnten Schwangerschaftsabbrüche generell ab, weil sie es als Aufgabe von Eltern ansahen, auch ein krankes und behindertes Kind großzuziehen oder weil der hohe Aufwand der Kinderwunschbehandlung im Widerspruch zu einem Abbruch stehe (vgl. Kap. 5.6.1). Diese Aussagen weisen darauf hin, dass für die Paare oft schwerwiegende Behinderungen oder Erkrankungen des Kindes einen Schwangerschaftsabbruch rechtfertigen und weniger drohende körperliche und psychische Belastungen der Mutter. Trotz der Neuregelungen des Paragrafen 218 StGB orientieren sich die meisten Paare eher an embryopathischen Indikationen (vgl. Kap. 2.3.1). Kritisch wurde von einem Teil der Befragten dennoch bewertet, wenn Eltern ein Kind um jeden Preis bekämen, das heißt, wenn diese missachteten, dass das kindliche Wohl und die Lebensqualität durch Erkrankungen und Behinderung stark beeinträchtigt werde (vgl. Kap. 5.6.3).
Der Einsatz einer PID wurde von den meisten Paaren befürwortet, wenn damit jene Erbkrankheiten oder Behinderungen vor einem ET festgestellt werden, die das Kind mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht lebensfähig machen oder es im Mutterleib, nach der Geburt oder im frühen Kindesalter sterben könnte. Dies wurde damit begründet, dass möglicherweise Fehlgeburten, das Leiden des Kindes und das Verlusterleben der Eltern vermeidbar seien. Die Paare sahen in der PID im Gegensatz zur PND den Vorteil, dass dabei Zellen untersucht werden, zu denen ein Paar, anders als zu einem Fötus im Mutterleib, noch keine emotionale Bindung aufgebaut habe. Die meisten Paare setzten den Beginn des schätzenswerten Lebens mit der Einnistung des Embryos in die Gebämutter gleich, weshalb sie eine Selektion von befruchteten Eizellen im Rahmen einer PID als legitim und vertretbar ansahen. Die Paare, für die das schätzenswerte menschliche Leben mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle beginnt, gaben an, dass sie keine PID vornehmen lassen würden (vgl. 5.6.2). Von allen Paaren wurde eine Selektion von Embryonen aufgrund nicht-krankheitsrelevanter Merkmale (Geschlecht, Haar- und Augenfarbe) im Rahmen einer PID nicht akzeptiert und mit Designerbabys oder der Eugenik des Dritten Reiches assoziiert (vgl. Kap. 5.6.2). Diese Aussagen sprechen gegen These 5, nach der Wunschkindmentalitäten, Erwartungshaltungen oder Konsumenteninteressen bei den Paaren aufgrund des medizinischen Fortschritts zunehmen (vgl. Kap. 2.3.1). Die Befragten machten deutlich, dass die elterliche Verantwortung im Rahmen der PND, PKD oder PID darin läge, das gesundheitliche Wohl des Kindes im Blick zu haben, während Äußerlichkeiten, die jedes Kind individuell und einzigartig machten, nicht beeinflusst werden sollten bzw. dass Embryonen nicht aufgrund äußerlicher Merkmale ausselektiert werden (vgl. Kap. 5.6.3). Dies zeigt, dass eine Ausweitung des Angebotskataloges der PID auf nicht-krankheitsrelevante Merkmale der PID nicht befürwortet wird. Einige Paare befürchteten diesbezüglich einen Dammbruch, den sie etwa im Ausland sahen. Dort werde im Rahmen von Kinderwunschbehandlungen die Auswahl des Geschlechts oder der Augenfarbe bereits praktiziert.