2.3.2 Handlungszwänge und Anforderungen
Die Fortpflanzungstechnologien können auch Handlungszwänge mit sich bringen: Onnen-Isemann (2008) und Beck-Gernsheim (1991, 1998) konstatieren, dass Unfruchtbarkeit nicht mehr als Schicksal hingenommen werden kann, da es immer wieder neue reproduktionsmedizinische Behandlungsmöglichkeiten gibt. Daher entstehe der Zwang, immer mehr und mit gesundheitlichen Risiken und emotionalen Belastungen verbundene Behandlungen über sich ergehen zu lassen. Hinsichtlich der Inanspruchnahme der medizinisch assistierten Fortpflanzung zeigen empirische Studien, etwa von Onnen-Isemann (2000), dass sich viele Paare daher kaum Grenzen bezüglich der Behandlungszyklen setzen.
Auch in Bezug auf Elternschaft und Erziehung ergeben sich neue Anforderungen. Sozialhistorische Untersuchungen belegen, dass sich diese mit dem Übergang in die moderne Gesellschaft und der „Entdeckung der Kindheit“ (Philippe Ariäs) entwickelt haben. Im 17. Jahrhundert waren Kinder hauptsächlich Arbeitskräfte und die Aufgabe der Eltern darin bestand, die Ernährung des Kindes zu gewährleisten. Am Ende des 18. Jahrhunderts bemühte sich vor allem das aufstiegsorientierte Bürgertum um die Qualifikation und Bildung des Nachwuchses. Ende des 19. Jahrhunderts setzten sich psychologische und medizinische Erkenntnisse durch. Die elterlichen Pflichten wurden auf die Gesundheit des Kindes erweitert. Regeln für eine angemessene Pflege, Erziehung, Hygiene und Ernährung standen dabei im Vordergrund. Nach Beck-Gernsheim (1998, 2006) wurden und werden Eltern mit einer zunehmenden Zahl von Informationen konfrontiert, die sie auf mögliche Risiken, Schäden, Entwicklungsprobleme ihres Kindes sowie auf angemessene Erziehungsmethoden hinweisen. Dies setze Eltern unter Druck, optimale Bedingungen zu schaffen, indem sie alle Informationen berücksichtigen.
Durch den Individualisierungsprozess verlieren zwar normative Pflichten ihre Verbindlichkeit. Beim Normenkomplex der Elternschaft ist hingegen eine Verfestigung zu beobachten. Das Prinzip, das sich heute zunehmend durchsetzt, hat Kaufmann (1990) auf theoretischer Ebene abgeleitet und mit dem Begriff der verantworteten Elternschaft umschrieben. Diese bezieht sich seit der Verbreitung der Antibabypille zunächst auf den quantitativen und zeitlichen Aspekt: Obwohl im Zuge der Individualisierung Entscheidungsfreiheit bezüglich der Kinderzahl besteht, drängt der gesellschaftliche Druck die Paare dazu, Kinder zum richtigen Zeitpunkt und nur dann zu bekommen, wenn sie die ökonomischen Ressourcen und psychischen Stärken besitzen, eine intensive anspruchsvolle Erziehung zu gewährleisten.
Mit den Entwicklungen in der Reproduktions- und Pränatalmedizin und dem wachsenden Wissen über Risiken in der Schwangerschaft kommt nach Beck-Gernsheim (1998) ein qualitativer Aspekt hinzu. Das Gebot der neuen Elternschaft, so Beck-Gernsheim (1998, 2000), laute „optimale Startchancen fürs Kind“ und beziehe sich im Gegensatz zum Ende des 19. Jahrhunderts bereits auf den Zeitpunkt vor der Geburt. Verantwortliches Handeln bedeutet nach Beck-Gernsheim, dass vorgeburtliche Diagnostiken in Anspruch genommen werden müssen, um die Geburt von behinderten oder kranken Kindern zu vermeiden. Erblich belastete Paare sollen ihren Kinderwunsch entweder aufgegeben oder ihre Kinder mithilfe der PID „auf Probe“ zeugen. Beck-Gernsheim (1998) nimmt an, dass viele Frauen, auch jene, die auf natürlichem Wege Kinder bekommen können, zunehmend eine Schwangerschaft auf Probe eingehen, da sich bei ihnen Angst vor einem behinderten Kind und ein gesteigertes Bedürfnis nach Sicherheit und entwickeln. Marco Kröger (2004) zeigt auf, dass sich Schwangere, die nicht auf Fortpflanzungstechnologien zur Familiengründung angewiesen sind, häufig vor überforderung fürchten oder Angst vor negativen Reaktionen aus dem sozialen Umfeld oder finanziellen Schwierigkeiten haben. Das gesteigerte Sicherheitsbedürfnis lasse sich am Beispiel der Fruchtwasseruntersuchung illustrieren, die in den 1970er Jahren kaum in Anspruch genommen wurde. Mit dem Einfluss der Humangenetik wurde die Amniozentese in die Mutterschaftsrichtlinien aufgenommen. Weil Frauen denken, dass sie verantwortungsvoll handeln, wenn sie sich an diese Richtlinien halten, werde die Untersuchung fast routinemäßig durchgeführt. Nehmen sie die Diagnostik nicht in Anspruch und bekommen ein krankes oder behindertes Kind, droht der Mutter eine gesellschaftliche Schuldzuweisung. Laut Beck-Gernsheim (1991, 1998, 2006) verändert die Verantwortung gegenüber der Gesellschaft und der Familie den Begriff der Fürsorge, die im Kontext der Medizin bedeutet „Lieber kein Leben als falsche Gene“. Eltern könnten zwar nicht als Opfer des gesellschaftlichen Drucks gesehen werden, der diktiert, wann sie ein Kind abtreiben müssen. Dennoch bliebe unberücksichtigt, dass die Selektion von behindertem Leben ein gesellschaftlich akzeptiertes Ziel sei, wodurch ein sozialer Druck entstehen könne, bestehende Diagnostiken in Anspruch zu nehmen.
Cordula Mock (2007) stellt klar, dass es trotz der vorgeburtlichen Diagnostik keine Garantie für ein gesundes Kind geben könnte. Die angenommene Sicherheit sei zudem nur scheinbar: Die Methoden der PND wie die Nackenfaltenmessung seien wenig aussagekräftig und wiesen lediglich auf ein Risiko hin. Bei jeder achten Frau falle der Wert beunruhigend für die Schwangere aus. In den meisten Fällen bekämen sie aber ein gesundes Kind. Das Ersttrimesterscreening sei ebenfalls fehleranfällig, da sich geringe Messfehler oder falsche Angaben zur Dauer der Schwangerschaft negativ auf die Risikoberechnung auswirken und zu falschen Befunden führen können. Schockenhoff (2000) weist darauf hin, dass im Rahmen einer PID berücksichtigt werden müsse, dass Fachleute unterschiedlicher Disziplinen zu verschiedenen Einschätzungen der Schwere von Erbkrankheiten gelangen. Zudem sei das Ausmaß der Symptome kaum vorhersagbar und als objektives Kriterium kaum anwendbar. Das könne bedeuten, dass mit der Erweiterung des Indikationsspektrums auch Entscheidungsdilemmata für Eltern zunehmen.