6.2 Familienbild, Kinderwunschmotive und ungewollte Kinderlosigkeit
Ein Großteil der befragten Paare heiratete aus rationalen Motiven, um Zuzahlungen von den Krankenkassen zu erhalten, wobei berücksichtigt werden muss, dass es sich bei diesen Entscheidungsbegründungen um nachträgliche Rationalisierungen handeln könnte. Nur für zwei Paare rechtfertigte die Hochzeit die Realisierung des Kinderwunsches (vgl. Kap. 5.2). Dies zeigt, wie auch im Rahmen der Individualisierungsthese konstatiert wird (Kap. 2.2.1), dass normative Verbindlichkeiten zur Eheschließung, um die Realisierung des Kinderwunsches zu legitimieren, nachgelassen haben. Die Familie hat jedoch nicht an subjektiver Wertschätzung verloren: Für die meisten Paare gehörten Kinder zu einer Partnerschaft dazu und machten eine Familie erst vollständig. Nur drei Paare konnten sich ein Leben ohne Kinder vorstellen, wenn die reproduktionsmedizinischen Möglichkeiten ausgeschöpft sind (vgl. Kap. 5.3). Daneben akzeptierten die Paare heterogene Familienkonstellationen und -gründungen: So kritisierten sowohl die Alleinstehende und das gleichgeschlechtliche Paar, als auch einige Ehepaare, dass Heterosexualität eine Voraussetzung für eine legale Realisierung des Kinderwunsches mithilfe der Reproduktionsmedizin ist und dass nur heterosexuelle, verheiratete Paare von den Krankenkassen finanziell unterstützt werden. Diese institutionellen Beschränkungen entsprächen nicht der gesellschaftlichen Realität (vgl. Kap. 5.2).
Acht Paare gaben an, dass die Zeugung von Nachwuchs ein Lebenssinn, eine Bereicherung oder Lebensaufgabe sei. Daneben äußerten sieben Paare den Wunsch nach einem leiblichen Kind bzw. wollten die elterlichen Eigenschaften im Nachwuchs vereint sehen. Die hohe Bedeutung der genetischen Abstammung von Paaren in reproduktionsmedizinischer Behandlung wurde bereits in empirischen Studien etwa von Onnen-Isemann (2000, o. J.) oder Siegel et al. (2008) festgestellt (vgl. Kap. 2.1.1, 2.1.2). Zudem motivierte das sozialisierte Bild von Familie zur Elternschaft, das durch individuelle Erfahrungen in der eigenen Kindheit entstand (vgl. Kap. 5.2). Diese Aussagen zeigen, wie bereits Burkart (1994, o. J.) und Brühler (1990) feststellten, dass die Entscheidung zur Elternschaft überwiegend ein Ausdruck eines Wunsches oder Willens ist oder durch die Erwartung bedingt wird, die eigene Kindheit nochmals zu durchleben. Ein normativer Druck zur Familiengründung aus dem sozialen Umfeld motivierte nur in einem Fall zur Realisierung der Elternschaft. Ferner ist laut Burkart ein bestimmter biografischer Zeitpunkt in der Biografie für die Realisierung des Kinderwunsches entscheidend (vgl. Kap. 2.1.1). Auch in dieser Stichprobe betrachteten die Paare die Sicherung der finanziellen Verhältnisse, die Beendigung der Ausbildung und/oder eine stabile Partnerbeziehung als Voraussetzung für die Elternschaft (vgl. Kap. 5.2). Hinsichtlich geschlechtsspezifischer Unterschiede zeigt sich, dass bei drei Interviewpartnerinnen das Schwangerschaftserleben eine Rolle spielte. Vier Befragte gaben an, dass eine Schwangerschaft zur weiblichen Identität gehöre. Wie Brühler konstatiert, kann dadurch die Weiblichkeit manifestiert werden. Der Wunsch, die Schwangerschaft bei der Partnerin miterleben zu können, wurde auch von einigen Männern genannt. Nach Brühler können diese über das Schwangerschaftserleben der Partnerin eine Bindung zum ungeborenen Kind aufbauen (vgl. Kap. 2.1.1, 5.2). Dies war jedoch nicht die Begründung, welche die Interviewpartner äußerten. Sie erklärten, dass sie eine Schwangerschaft erleben wollten, weil dadurch der Familienbildungsprozess einer natürlichen Familiengründung nahe kommt.
Das individuelle Verhalten der Paare orientiert sich bei der Partnerwahl möglicherweise nicht so stark, wie in der Sozialbiologie angenommen, am Fortpflanzungserfolg (vgl. Kap. 2.1.1). In dieser Stichprobe wird vielmehr deutlich, dass die Fertilitätsstörungen bzw. die Tatsache, dass die Befragten gemeinsam keine Kinder ohne medizinische Hilfe bekommen können, nur wenige Paare an der Beziehung zweifeln ließen (vgl. Kap. 2.1.1). Viele Männer und einige Frauen interpretierten ihre eigene Fertilitätsstörung als Versagen oder Widerspruch zur Männlichkeit bzw. Weiblichkeit. Dies deckt sich mit der empirischen Studie von Goebel (2008), die ergab, dass die Diagnose Unfruchtbarkeit häufig als schwerwiegender Makel erlebt wird. Im Gegensatz dazu bezeichneten die Paare die ungewollte Kinderlosigkeit und Unfruchtbarkeit jedoch nicht als ihre größte Lebenskrise dar (vgl. Kap. 2.1.2). Ein Großteil der Paare gab zwar an, die Diagnose zunächst als Schock erlebt zu haben, weil die Familiengründung nicht mehr individuell planbar verlief. Dennoch konnten sie diesen schnell überwinden, als ihnen bewusst wurde, dass eine Familiengründung trotz Sterilität mithilfe der Fortpflanzungstechnologien realisierbar ist. Nach Hoffmann-Riem (1990) verstärkt sich der Kinderwunsch bei ungewollter Kinderlosigkeit, weil das Kind zur Einlösung des Biografieentwurfes der Eltern gebraucht wird (vgl. Kap. 2.1.2). In dieser Stichprobe gibt es dafür keine Hinweise. Die meisten Paare gaben an, dass der Kinderwunsch entweder schon immer bestand oder sich im Laufe der Paarbeziehung entwickelte oder verstärkte, nicht aber mit der ungewollten Kinderlosigkeit (vgl. Kap. 5.2).