3. Untersuchungsziele, Fragestellungen und Thesen
Die Entwicklungen im Bereich der Fortpflanzungsmedizin und PND beeinflussen die Entscheidungsprozesse zur Elternschaft und die Art der Familiengründungen und -formen. Der theoretische und empirische Hintergrund zeigt jedoch kein einheitliches Bild: Fraglich bleibt, ob gesellschaftliche Zwänge wirken oder ob sich Paare autonom entscheiden, die Reproduktionsmedizin zur Familiengründung in Anspruch zu nehmen (vgl. Kap. 2.1.1, 2.1.2). Hinsichtlich der familiären und sozialen Beziehungen liegt der Fokus bei den aufgeführten empirischen Studien auf den Inseminationsfamilien, wobei häufig suggeriert wird, dass diese Beziehungen hauptsächlich durch die Auflösung der biologisch-sozialen Doppelnatur beeinflusst werden (vgl. Kap. 2.2.3). In wissenschaftlichen Stellungnahmen liegt das Augenmerk meist auf den impliziten Folgen der Anwendung der Fortpflanzungstechnologien, wobei die Perspektive der potenziellen bzw. werdenden Eltern unberücksichtigt bleibt. Ferner ist nicht eindeutig, ob die Paare, die diese Fortpflanzungstechnologien nutzen, eine Wunschkindmentalität entwickelt haben oder ob ihre Entscheidungen von z. B. steigenden Anforderungen bestimmt werden (vgl. Kap. 2.3). Schließlich liegen einige Studien bereits länger zurück: So untersuchten Siegel et al. (2008) jene IVF-Familien, die in den 1980er entbunden haben. Daher ist die Perspektive derjenigen, welche die Fortpflanzungstechnologien heute bzw. etwa 20 Jahre später nutzen, von Bedeutung, um Veränderungen in den Sichtweisen im Zuge der sich entwickelnden Reproduktionsmedizin zu ermitteln.
Ziel dieser Arbeit ist es, zu untersuchen, wie ungewollt kinderlose Paare in Deutschland die Fortpflanzungstechnologien und vorgeburtlichen Diagnostiken nutzen und erleben. Es sollen subjektive Motive, Einstellungen, Bedingungen und auslösende Momente oder Erfahrungen rekonstruiert werden, welche die individuellen Entscheidungsprozesse und Verhaltensweisen der Paare im Kontext der reproduktionsmedizinischen Behandlung und PND bedingen. Daneben soll untersucht werden, welche Konsequenzen und Herausforderungen sich aus der Art der Familiengründung für die Gestaltung der familiären und sozialen Beziehungen ergeben. Aus diesen Untersuchungszielen lassen sich folgende Fragen ableiten:
1) Fragen zu individuellen Entscheidungsbegründungen für die Inanspruchnahme der Unfruchtbarkeitsbehandlung: Wie reagieren die Paare auf die ärztliche Diagnose, dass sie auf natürlichem Wege keinen Nachwuchs zeugen können? Was motiviert sie, eine Kinderwunschbehandlung aufzunehmen? Welche Kinderwunschmotive haben sie?
2) Fragen zu Bewertungen der reproduktionsmedizinischen Möglichkeiten: Welche Fortpflanzungstechnologien akzeptieren die Paare, welche Vor- und Nachteile fallen ihnen auf und welche Erwartungen haben sie? Welche Alternativen sehen die Paare zur Erfüllung des Kinderwunsches bzw. reproduktionsmedizinischen Behandlung?
3) Fragen zu Entscheidungen, Erfahrungen und Bedingungen während der Behandlung: Wie gestalten sich die
ÄrztInnen-PatientInnen-Beziehungen und welchen Einfluss üben diese auf die Entscheidungen der Paare aus? Wie gehen sie mit den physischen und psychischen Belastungen um, die aus der Behandlung resultieren? Wie viele Behandlungszyklen sind die Paare bereit zu durchlaufen und was motiviert diese Entscheidung?
4) Fragen zu Interaktionen mit dem familiären und sozialen Umfeld: Wie gestalten sich die Partnerschaftsbeziehungen im Behandlungsverlauf? Wie gehen die Paare gegenüber dem familiären und sozialen Umfeld mit der Art der Familiengründung um und wie reagiert das Umfeld? Welchen Stellenwert hat die Art der Familiengründung für die Paare im Hinblick auf die Eltern-Kind-Beziehung?
5) Fragen zu subjektiven Sichtweisen auf vorgeburtliche Diagnostiken: Welche PND nehmen die Paare in Anspruch und aus welchen Gründen entscheiden sie sich dafür? Nehmen sie ihre Handlungsautonomie wahr oder entscheiden sie sich aufgrund gesellschaftlicher Zwänge für bestimmte Diagnostiken? Welche Befunde bewegen die Paare zum Schwangerschaftsabbruch und aus welchen Gründen entscheiden sie sich dafür? Welche subjektive Sichtweise haben die Paare auf die PID?
In dieser Arbeit wird davon ausgegangen, dass die Motivation zur Elternschaft und zur reproduktionsmedizinischen Behandlung eine partnerschaftliche Entscheidung ist. Daher erfolgt keine geschlechtsspezifische Analyse, wobei geschlechtsspezifische Unterschiede in den Aussagen der InterviewpartnerInnen in der Auswertung gekennzeichnet werden. Inwiefern sich die Reproduktionsmedizin auf die physische und psychische Entwicklung und Lebenschancen der durch die Reproduktionsmedizin gezeugten Kinder auswirkt, ist ebenfalls nicht Gegenstand der Arbeit. Die Perspektive auf die Beziehung zum Kind oder sozialen Umfeld ist zudem einseitig, da nur die Paare, nicht aber deren Kind(er) und soziales Umfeld befragt werden. Auch rechtliche Fragen, die sich durch die segmentierten Elternschaften und sich z. B. auf erbrechtliche Ansprüche bei DI beziehen, werden nicht behandelt.
Aus den theoretischen und empirischen Hintergrundfragen lassen sich Thesen, Antithesen und Synthesen bilden, die als Rahmen für die Interpretation der Interviews dienen. Diese beziehen sich, mit Ausnahme der PID, auf die in Deutschland erlaubten reproduktionsmedizinischen und diagnostischen Verfahren.
These 1: Die Entscheidungs- und Handlungsfreiheiten in Bezug auf reproduktive Optionen werden von ungewollt kinderlosen Paaren voll wahrgenommen. Die Methoden der Reproduktionsmedizin werden von Paaren akzeptiert, weil sie ermöglichen können, dass sie eine Schwangerschaft erleben und sich den Wunsch nach einem genetisch eigenen Kind erfüllen. Die Fortpflanzungsmedizin wird von den Paaren als Zuwachs der persönlichen Autonomie betrachtet (vgl. Kap. 2.1.3 und 2.3.1.)
Antithese 1: Durch die Reproduktionsmedizin entstehen für ungewollt kinderlose Paare Entscheidungs- und Handlungszwänge, bestehende reproduktionsmedizinische Behandlungen in Anspruch zu nehmen. Bleibt der Kinderwunsch unerfüllt, können tradierte Vorstellungen über Fortpflanzung und Weiblichkeit sowie der Druck gesellschaftlicher Normen bei den Paaren Schuld- und Minderwertigkeitskomplexe auslösen. Trotz gesundheitlicher Risiken sowie geringer Erfolgsquote der Reproduktionsmedizin werden von den Paaren immer neue Behandlungen ausprobiert und alle medizinischen Möglichkeiten ausgeschöpft, da Unfruchtbarkeit nicht mehr als naturgegebenes Schicksal hingenommen werden darf (vgl. Kap. 2.3.2).
Synthese 1: Inwieweit die reproduktionsmedizinischen Möglichkeiten genutzt werden, hängt davon ab, ob ungewollt kinderlose Paare ihre individuelle Handlungs- und Entscheidungsautonomie bewahren können oder ob sie normative Erwartungen erfüllen, weil sie einem gesellschaftlichen Druck ausgesetzt sind, nichts unversucht zu lassen, um sich den Kinderwunsch zu erfüllen.
These 2: Die ÄrztInnen-PatientInnen-Beziehungen beeinflussen die Entscheidungen oder Handlungsstrategien der Paare und wirken sich auf das Erleben der Kinderwunschbehandlung aus. Die ÄrztInnen beeinflussen durch ihre Definitions-, Steuerungs- und ExpertInnenmacht die Entscheidungen der Paare, etwa in Bezug auf die Behandlungsdauer und den -ablauf oder den Einsatz bestimmter PND und Anzahl der in Anspruch genommenen Behandlungszyklen. Besteht eine asymmetrische Wissens- und Informationsverteilung, etwa weil die ÄrztInnen unzureichend aufklären oder die PatientInnen den medizinischen elaborierten Sprachcode nicht verstehen, sind die Betroffenen unzufrieden, unsicher und ängstlich (vgl. Kap. 2.1.6).
Antithese 2: Die ÄrztInnen-PatientInnen-Beziehungen haben keinen Einfluss auf die Entscheidungen oder Handlungsstrategien der Paare und wirken sich nicht auf das Erleben der Kinderwunschbehandlung aus. Die Paare ziehen ihnen verständliche Quellen, etwa aus dem Internet hinzu oder tauschen sich mit anderen Betroffenen aus, um sich über die Kinderwunschbehandlung zu informieren. Durch die so entstehende nahezu symmetrische Informationsverteilung verlieren ÄrztInnen zum Teil ihre Steuerungsmacht. Zudem nehmen die Paare ihr Recht auf Selbstbestimmung wahr und entscheiden im Rahmen der gesetzlichen Regelungen selbst, wie die Behandlung abläuft. Dadurch verstärkt sich die subjektive Zufriedenheit der Paare während der Behandlung (vgl. Kap. 2.1.6).
Synthese 2: Das Erleben der Kinderwunschbehandlung wird durch ÄrztInnen-PatientInnen-Beziehungen maßgeblich bestimmt. Dabei ist z. B. von Bedeutung, inwieweit die Paare die Steuerungsmacht den ÄrztInnen überlassen und ob sich diese Beziehungen symmetrisch oder asymmetrisch gestalten.
These 3: Paarbeziehungen und Eltern-Kind-Beziehungen werden infolge der Kinderwunschbehandlung destabilisiert. In Inseminationsfamilien gestalten sich diese zusätzlich schwierig, weil die genetische Abstammung zu einem Elternteil fehlt. Durch die Entprivatisierung und Rationalisierung der Reproduktionsarbeit sowie der Entkoppelung von Liebe, sexuellem Verkehr und Fortpflanzung werden familiäre Beziehungen labil. Hinzu kommt, dass ein asymmetrischer Kinderwunsch oder die Belastungen durch die Behandlung die Paarbeziehungen schwächen können. In Inseminationsfamilien müssen die Paare den Wunsch nach einem Kind, das von beiden Eltern genetisch abstammt, aufgeben und vor allem die sozialen Väter müssen sich bemühen, trotz der fehlenden genetischen Verbindungen ihren normativen Pflichten gegenüber den Kindern nachzukommen. Zudem muss der Samenspender als dritte Person, die an der Zeugung beteiligt war, in die Familienbiografie integriert werden. Dies kann die Paarbeziehungen und Eltern-Kind-Beziehungen destabilisieren (vgl. Kap. 2.2.3).
Antithese 3: Paarbeziehungen und Eltern-Kind-Beziehungen werden durch die Besonderheit der Familiengründung stabilisiert. Die fehlende genetische Abstammung bei der DI hat dabei keinen negativen Einfluss. Die Paarbeziehung wird während der Behandlungszeit gestärkt, etwa indem die Partner das Ziel gemeinsam verfolgen, den Kinderwunsch mithilfe der Reproduktionsmedizin zu realisieren, und sich gegenseitig unterstützen und gemeinsame Stressbewältigungsstrategien entwickeln. Die asymmetrische Eltern-Kind-Beziehung hinsichtlich der genetischen Verbindung in Inseminationsfamilien hat keinen Einfluss auf die Partnerschaft, da für das Paar das Filiationsprinzip in den Hintergrund rückt und der soziale Vater als „richtiger“ Vater und der Samenspender lediglich als Erzeuger betrachtet wird (vgl. Kap. 2.2.3).
Synthese 3: Die aus der Behandlung resultierenden Belastungen werden von den Paaren bewältigt, wenn sie das Ziel, sich den Kinderwunsch mithilfe der Reproduktionsmedizin zu erfüllen, mit gleicher Intensität verfolgen. Ist dies nicht gegeben, wird die Paarbeziehung destabilisiert. Die Aufläsung der biologisch-sozialen Doppelnatur in Inseminationsfamilien hat keinen negativen Einfluss auf Paarbeziehungen und Eltern-Kind-Beziehungen, wenn die fehlende genetische Abstammung des Kindes von einem Partner für das Paar annehmbar ist.
These 4: Paare, die sich ihren Kinderwunsch mithilfe der Reproduktionsmedizin erfüllt haben bzw. erfüllen, tendieren zu Tabuisierung der Art der Familiengründung gegenüber ihrem Kind und dem familiären und sozialen Umfeld. Aus Angst vor Diskriminierung wird die Art der Familiengründung tabuisiert, selbst wenn die natürliche Reproduktionstriade erhalten bleibt. In Inseminationsfamilien kommt hinzu, dass die Fiktion der biologischen, genetischen Elternschaft durch eine „Normalisierung als ob“-Strategie aufrechterhalten wird. Eltern sind bestrebt, die Art der Familiengründung auch gegenüber ihrem Kind zu verheimlichen (vgl. Kap. 2.2.3).
Antithese 4: Paare, die sich ihren Kinderwunsch mithilfe der Reproduktionsmedizin erfüllt haben oder erfüllen, tendieren zur Offenheit gegenüber ihrem Kind und dem familiären und sozialen Umfeld. Familiengründungen mithilfe der medizinisch assistierten Fortpflanzung werden in der Gesellschaft zunehmend akzeptiert, weshalb die Paare keine Stigmatisierungen aus dem sozialen Umfeld befürchten. Die Paare sehen auch in der Aufklärung ihrer Kinder keine Probleme, selbst wenn die biologisch-soziale Doppelnatur aufgelöst wird (vgl. Kap. 2.2.3).
Synthese 4: Je nachdem, wie die Paare die Akzeptanz der Fortpflanzungstechnologien in der Gesellschaft und/oder im familiären und sozialen Umfeld wahrnehmen, entscheiden sie sich für Offenheit oder Tabuisierung. In Inseminationsfamilien tendieren die Paare dazu, die Art der Familiengründung zu verheimlichen, wenn sie die Illusion der biologischen, genetischen Elternschaft aufrecht erhalten möchten.
These 5: Die vorgeburtlichen Diagnostiken werden von Paaren in Anspruch genommen, weil sie erwarten, dass damit eine Garantie auf ein gesundes Kind verbunden ist. Die Paare betrachten den Einsatz der PND und PID als zulässig, weil sie denken, dass dadurch der Wunsch nach einem gesunden Kind erfüllt werden kann. Bei den Paaren werden durch die Fortschritte in der Fortpflanzungstechnologie Begehrlichkeiten und Erwartungen auf ein Kind, das keine Anomalien aufweist, geweckt. Darüber hinaus wird die Gestaltbarkeit des Nachwuchses befürwortet, die sich nicht nur auf Krankheiten bzw. Behinderungen, sondern auch auf Äußerlichkeiten bezieht (vgl. Kap. 2.3.1).
Antithese 5: Die Paare nehmen die vorgeburtlichen Diagnostiken in Anspruch, weil ein gesellschaftlicher Druck besteht, die Geburt kranker bzw. behinderter Kinder zu vermeiden. Durch PND oder PID vergrößert sich der ethische Konflikt für Eltern, da durch diese Techniken Druck und Handlungszwänge ausgeübt werden. So entsteht eine gesellschaftliche Pflicht zum unbehinderten Kind, die zum Schwangerschaftsabbruch motiviert, wenn das Risiko einer Erkrankung oder Behinderung besteht (vgl. Kap. 2.3.2).
Synthese 5: Inwiefern die Paare vorgeburtliche Diagnostiken für sinnvoll halten bzw. in welchen Fällen sie Schwangerschaftsabbrüche befürworten, hängt davon ab, wie sie die Grenzen definieren bzw. welche Krankheiten und Behinderungen sie als zumutbar für ihr Kind und für sich ansehen. Darüber hinaus werden diesbezügliche Entscheidungsprozesse und Handlungsstrategien der Paare davon beeinflusst, inwiefern eine gesellschaftliche Pflicht zum unbehinderten Kind wahrgenommen wird.