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Ein Volk von Ritalin-Schluckern?
Die Zappelphilippe entwachsen den Kinderschuhen: Bereits jeder 20. Erwachsene soll unter der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperativitätsstörung (ADHS) leiden
Von Paula Lanfranconi

Hat es einen jetzt auch erwischt? Schon wieder hat man dem Partner nicht recht zugehört. Wichtige Unterlagen verlegt. Keine Lust gehabt, den dringenden Artikel fertig zu schreiben. Hat einfach zum Fenster hinausgeschaut. Ist herumgetigert, statt die Mailliste abzuarbeiten. Tagträumen, Vergesslichkeit, Unaufmerksamkeit - alles Symptome einer ADHS!

Früher, da wars besser. Man war aufgehoben in der Grossfamilie, die Arbeit überschaubar. Heute sind die Sicherheiten weg, alles muss schnell gehen, wer nicht mitkommt, verliert den Job. "ADHS", sagt Manfred Döpfner, Professor für Psychotherapie am Klinikum der Uni Köln, "ist auch ein Produkt unserer Kultur."Und die fordere heute lang dauernde geistige Aufmerksamkeit. Würde unsere Kultur auf die Fähigkeit setzen, möglichst hoch springen zu können, hätten wohl viele Menschen ein "Stabhochsprungdefizit".

Dominique Eich, Privatdozentin für Psychiatrie an der Psychiatrischen Uniklinik Zürich und Kopräsidentin der soeben gegründeten Schweizerischen Fachgesellschaft für ADHS, behandelt seit fünf Jahren Erwachsene, die an einer Aufmerksamkeitsdefiit-/Hyperaktivitätsstörung leiden. Erst kurz vorher, 1995, hatte der amerikanische Kinderpsychiater Paul Wender beschrieben, dass viele seiner inzwischen erwachsenen Patienten zwar nicht mehr über Tische und Bänke hechteten, aber immer noch ein ziemlich chaotisches Leben führten. Heute geht man davon aus, dass bis fünf Prozent aller Erwachsenen eine ADHS haben.

Die Betroffenen fallen heute mehr auf.

Schon wieder eine neuartige Epidemie? Dominique Eich winkt ab. ADHS sei nicht häufiger als früher, falle aber heute rascher auf, und die "Auffälligen" würden vermehrt abgeklärt. Zum Beispiel jene Sekretärin, die schon als Kind eine Tagträumerin war, jedoch im Gegensatz zu den hyperaktiven Knaben in der Schule nicht störte. Heute sitzt diese Frau am Computer, kann sich nicht konzentrieren, macht unerklärliche Fehler, wird depressiv - und verliert ihre Stelle.

Was läuft denn falsch bei einer ADHS? "Der heutige Stand des Irrtums", sagt Dominique Eich ironisch, "ist, dass es sich um eine Stoffwechselstörung im Frontalhirn handelt." Dadurch haben die Betroffenen extrem Mühe, zwischen wichtigen und unwichtigen Reizen zu unterscheiden und sich länger zu konzentrieren. Wenn sie aber etwas in den Bann zieht, knien sie sich übermässig hinein. ADHSler ecken auch wegen ihrer Impulsivität und Emotionalität an, viele fühlen sich ständig "unter Strom".

Remo Largo, Pädiater am Kinderspital Zürich, bezeichnet ADHS als "Kübel", in den unsere Nulltoleranzgesellschaft alle "Nervenden" werfe. Dominique Eich gibt Largo Recht: "Als Pädiater sieht er viele Störungsbilder, die man mit ADHS etikettiert, weil man nicht weiterkommt."

Die Diagnosestellung braucht Erfahrung, denn für ADHS gibt es weder standardisierte Tests noch Laborwerte. Umso erstaunlicher, wie leicht es sich gewisse Hausärzte machen. Seriöserweise muss man zuerst abklären, ob keine andere psychische Störung vorliegt. Dann arbeiten die Psychiater wie Buchhalter: Sie beobachten und addieren eine Anzahl Symptome - zum Beispiel Konzentrationsschwäche, Probleme mit der Selbstorganisation, innere Unruhe, Impulsivität, Stimmungsschwankungen.

Wie der Sohn, so die Mutter

Doch wer kämpft nicht ab und zu mit solchen Problemen? Psychaterin Eich hört diese Frage häufig. "Die Symptome", erklärt sie, "müssen in mehreren Lebensbereichen als wirklich störend wahrgenommen werden und müssen mindestens sechs Monate andauern. Zudem müssen sie sich schon vor dem siebten Altersjahr bemerkbar gemacht haben."


Astrid Wälchli ist eine ADHSlerin. Solange sie nur für sich selbst verantwortlich war, hatte sie ihr Leben recht gut im Griff. Doch als Kinder kamen, reichte ihre Energie nicht mehr. "Es wurde schwierig, den Alltag zu organisieren", erzählt die 47-hährige. Oft sei sie körperlich und psychische erschöpft gewesen. Als dann bei ihrem Sohn eine ADHS diagnostiziert wurde, merkte sie: Das hab ich ja auch - schon seit der Schulzeit, als ihr, einer eigentlich ehrgeizigen Schülerin, wegen Unordentlichkeit und Langsamkeit der Übertritt in die Sek verweigert wurde.

Nachdem ihre Diagnose feststand, versuchte Astrid Wälchli, mit einer Verhaltenstherapie Ordnung ins Chaos zu bringen. Doch die innere Unruhe und die Konzentrationsprobleme blieben. Nächster Versuch: minimale Dosen Ritalin (siehe Kasten). "Es war, wie wenn ich aus einem Nebel auftauchen würde", schwärmt sie. Plötzlich sei alles "gradlinig gegangen", die ständigen Abschweifungen waren weg. Und sie hatte endlich das Gefühl, sich selber zu sein.

Auch Psyhciaterin Eich behandelt ihre Patienten mit Ritalin. Aber, fügt sie hinzu, bei ADHS gehöre unbedingt eine Psychotherapie dazu. Das Medikament, sagt Eich, lege die Basis, damit die Patienten dem Therapeuten überhaupt zuhören können. Gemeinsam schaut man die Situation an, diskutiert, was man verbessern könnte. Die Patienten machen Hausaufgaben und führen Tagebuch.

Astrid Wälchli, die heute Präsidentin der IG-ADS (Interessengruppe ADS) ist, nimmt immer noch Ritalin. Aber nur, wenn sie sich konzentrieren muss. Sie hat ausserdem ein Haushaltscoaching mit einer psychiatrisch ausgebildeten Spitexfrau gemacht. Die beiden Frauen erstellten zusammen einen Tagesplan. Das klappe gut, sagt Astrid Wälchli, "und ich habe uach gelernt, manchmal Nein zu sagen und mich bei der Pflete der Schwiegereltern entlasten zu lassen".

Raser mit Ritalin behandeln

So gut wie bei Astrid Wälchli läuft es längst nicht immer. ADHSler, schreibt Astrid Neuy-Bartmann, Fachärztin für Psychotherapie und selbst Betroffene, seien öfter arbeitslos, geschieden, und sie brächten sich häufiger um als die Normalbevölkerung. Einen Grund sieht Neuy-Bartmann darin, dass jeder dritte ADHSler einen schlechteren Schulabschluss habe, als es seiner Intelligenz entspräche. Aber auch darin, dass sich ADHSler wegen ihrer mangelhaften Sozialkompetenz schlechter in die Gesellschaft eingliedern. Man wisse heute, dass Straftäter, die aus einem Affekt heraus völlig unkontrolliert handeln, von einer ADHS betroffen sein könnten und eigentlich eine Behandlung bräuchten.

Selbst bei Rasern sieht Neuy-Bartmann Zusammenhänge mit ADHS. Viele hyperaktive ADHSler seine ständig auf der Suche nach einem Adrenalinkick. Und den fänden sie in haarsträubenden Überholmanövern. "Es gibt", so Neuy, "Studien, die eindeutig belegen, dass die Unfallrate der ADHSler deutlich reduziert wird, wenn eine Stimulanzienbehandlung, zum Beispiel mit Ritalin, erfolgt."

Werden wir also bald alle zu Ritalinschluckern? So düster sieht es Neuy dann doch nicht. 95 Prozent der Menschen, schreibt sie, seien normal getaktet. Das müssten die ADHSler verstehen - und sie müssten wissen, was den Umgang mit Ihresgleichen schwierig mache, ohne sich selbst in Frage stellen zu müssen. Einfacher werde es in Zukunft ohnehin nicht, glaubt Neuy. Denn unsere Multitasking-Gesellschaft mit ihrer Reizüberflutung und Getriebenheit bringe ADHSler immer schneller an ihre Belastungsgrenze.

www.adhs.ch: wissenschaftliche Infos.
www.sfg-adhs.ch: Schweiz. Fachgesellschaft für ADHS.
www.igads.ch: Interessengruppe ADHS bei Erwachsenen.
www.hansguckindieluft.ch: Homepage Dr. med. Meinrad Ryffel.
www.ads-zentrum.com: Homepage Dr. med. Astrid Neuy-Bartmann




Dämpfer, Muntermacher

Ritalin ist ein Amphetamin mit dem Wirkstoff Methylphenidat. Entdeckt hat es der Ciba-Chemiker Leandro Panizzon, der es nach seiner Frau Marguerite benannte. Ritalin kam 1954 auf den Markt, zuerst als Muntermacher, später als Appetitzügler. Seit 1975 fällt es unter das Betäubungsmittelgesetz. Wie Ritalin genau in den Hirnstoffwechsel eingreift, weiss man nicht.

Der Ritalin-Boom begann in den 80er-Jahren, als US-Ärzte das Medikament an Kinder mit ADHS abgaben. Man hatte gmerkt, dass Ritalin, sonst ein Aufputscher, bei ADHS umgekehrt wirkt: Es dämpft die hypermotorische Unruhe und verstärkt die Aufmerksamkeit. Kontaktstörungen unf Auffälligkeiten im sozialen Verhalten verbessert Ritalin jedoch kaum.

Seit den 90er-Jahren schlucken auch in der Schweiz immer mehr Kinder Ritalin, und seit 1995 wird es Erwachsenen verschrieben. Die häufigsten Nebenwirkungen sind Appetitlosigkeit, Übelkeit, Kopfweh und eine schwer auszuhaltende innere Unruhe, in gravierenden Fällen auch Ticks, also unwillkürliche Bewegungen. Die Heilmittelkontrollbehörde Swissmedic analysiert zurzeit Studien über mögliche negative Langzeitwirkungen. Auf ihrer Homepage publiziert sie zudem ein Kursmodul für Ärzte: "Umgang mit Ritalin".

Fachleute wie Joachim Bauer, Internist und Psychosomatiker am Uni-Klinikum Freiburg (*Das Gedächtnis des Körpers*, Piper-Taschenbuch), kritisieren, Ritalin werde von Ärzten oft ohne ausreichende Diagnostik und ohne begleitende Psychotherapie verschrieben.

In den USA ist Ritalin inzwischen auch als Partydroge und Leistungssteigerer beliebt. Zwischen drei und zehn Prozent aller Collegestudenten, besonders aber auch gestresste Medizinstudierende, berichtet das renommierte "New England Journal of Medicine", nähmen Ritalin, um länger wach zu bleiben oder sich besser auf Prüfungen vorbereiten zu können.

In Zürich sei Ritalin bisher weder als Partydroge noch als Leistungssteigerer ein Thema, sagen Fachleute. In Basel hingegen bekomme man es auf der Gasse ziemlich leicht. Als Modedroge sei Ritalin indes wenig attraktiv, weil es längst nicht so einfahre wie Ecstasy oder Kokain. (lan).
 
M

Meggy

Guest
Schon wieder eine neuartige Epidemie? Dominique Eich winkt ab. ADHS sei nicht häufiger als früher, falle aber heute rascher auf, und die "Auffälligen" würden vermehrt abgeklärt.
Jep,so bekam ich es in der Praxis schon erklärt.
Früher, da wars besser. Man war aufgehoben in der Grossfamilie, die Arbeit überschaubar. Heute sind die Sicherheiten weg, alles muss schnell gehen, wer nicht mitkommt, verliert den Job.


Bin wohl auch ein Produkt dieser "Zucht" von damals, die mich damals hat mitkommen lassen.
Wie mein Lebenslauf aber auch deutlich zeigt: Wehe, wenn sie losgelassen... ;D
Daher besinne ich mich bei meinen Kindern sehr auf die Erziehung von damals. Ich sage gerne zu anderen: Ich hatte vieles nicht und bin auch groß geworden...
Vielleicht genau deshalb... :-D
 
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