"Unser Umgang mit Säuglingen
In vielen Kulturen ist die Verwendung von Wiege, Laufstall und Kinderbett unbekannt. Stattdessen trägt man die Säuglinge am eigenen Körper, meist im Hüftsitz oder auf der Schulter. Bernhard Hassenstein hat den menschlichen Säugling als »Tragling« bezeichnet. Das entspricht den Befunden bei den Menschenaffen, wo man von »Klammerling« sprechen könnte. In der Tat werden Menschenkinder auch überall dort, wo keine technischen Hilfsmittel wie Kinderwagen entwickelt wurden, getragen.
Das Tragen des Säuglings hat zur Folge, dass die Beine gespreizt werden, wodurch die Ausbildung der Hüftpfanne günstig beeinflusst wird. [...]
Signale des Säuglings
In unserer Kultur existierte zumindest bis in die 1970er-Jahre hinein eine Tendenz, Signale der Säuglinge nicht unmittelbar zu beantworten. »Man darf die Kinder nicht so verzärteln«, »Die müssen sich an Regeln gewöhnen« oder »Schreien ist gut für die Lungen« sind bisweilen gehörte Äußerungen. [...]
Andere Kulturen haben ein anderes Bild von der Bedeutung kindlicher Signale. Für sie sind Laute des Unwohlseins Anlass, sich sofort um das Kind zu kümmern und im Normalfall durch Bieten der Brust das »Stillen« zu bewirken. Diese Haltung ist mit der biologischen Sicht gut vereinbar. Signale entwickeln sich bei Lebewesen aus gutem Grund, da so Bedürfnisse gezeigt werden. Werden sie prompt, widerspruchsfrei und angepasst beantwortet, bildet sich bei dem Sender der Signale, also beim Säugling, das Vertrauen heraus: Meine Zeichen werden verstanden. Resultate der Bindungsforschung haben ergeben, dass so die sichere Basis des Urvertrauens entsteht. Solche Kinder haben ein entspannteres Verhältnis zu ihrer Mutter und anderen Betreuungspersonen und können sich später auch besser lösen als die Kinder, die nicht die Möglichkeit hatten, solch ein solides Urvertrauen aufzubauen.
Warum haben Säuglinge überhaupt das Verlangen, vor allem bei ihrer Mutter zu sein, warum fordern sie die durch das Signal des Weinens und subtile mimisch-gestische Zeichen regulierte Nähe zur Bezugsperson? Wahrscheinlich ist der evolutionsbiologische Grund für die ausgeprägte Orientierung des Kindes auf die Mutter und andere Bezugspersonen das Erfordernis, dass es sehr vielfältig betreut werden muss: Füttern, Stillen, Schützen und Wärmen erfüllen ja nicht alle Bedürfnisse. Die Ausbildung des erwähnten Urvertrauens, die Vermittlung weiterer emotionaler sowie sozialer und intellektueller Reize sind ebenfalls wichtig. Sie lassen sich vor allem dann reibungslos und ohne großen Aufwand vermitteln, wenn die körperliche Nähe der Bezugspersonen gegeben ist, wenn das Kind nicht im Bettchen, Wippstuhl, Laufstall oder Kinderzimmer von den Erwachsenen getrennt ist.
Solange Säuglinge als typische »Traglinge« bei der Mutter oder bei anderen Betreuern sind, befinden sie sich da, wo das wirkliche Leben ist. Hier wirkt sich dann auch die »Drehscheibe Kind« aus, die dazu führt, dass Säuglinge und Kleinkinder Adressaten äußerst vielfältiger sozialer Kontaktaufnahmen sind, die ihrerseits eben gerade jene Vielfalt von Reizen bieten, die für die Ausbildung aller körperlichen, mentalen und psychischen Fähigkeiten des Kindes so wesentlich sind. Diese archetypischen Muster der frühkindlichen Sozialisation erfordern Nähe zwischen dem Säugling und den anderen. Im abgetrennten Kinderzimmer ist sie häufig nicht gegeben."
Aus einem Artikel von Dr. Sabine Schiefenhövel-Barthel und Prof. Dr. Wulf Schiefenhövel, in "Brockhaus Mensch, Natur, Technik - Phänomen Mensch" R.A. Brockhaus, Leipzig u. Mannheim, 1999. Auch zu finden im "Brockhaus in Text und Bild, Ausgabe 2002"
In vielen Kulturen ist die Verwendung von Wiege, Laufstall und Kinderbett unbekannt. Stattdessen trägt man die Säuglinge am eigenen Körper, meist im Hüftsitz oder auf der Schulter. Bernhard Hassenstein hat den menschlichen Säugling als »Tragling« bezeichnet. Das entspricht den Befunden bei den Menschenaffen, wo man von »Klammerling« sprechen könnte. In der Tat werden Menschenkinder auch überall dort, wo keine technischen Hilfsmittel wie Kinderwagen entwickelt wurden, getragen.
Das Tragen des Säuglings hat zur Folge, dass die Beine gespreizt werden, wodurch die Ausbildung der Hüftpfanne günstig beeinflusst wird. [...]
Signale des Säuglings
In unserer Kultur existierte zumindest bis in die 1970er-Jahre hinein eine Tendenz, Signale der Säuglinge nicht unmittelbar zu beantworten. »Man darf die Kinder nicht so verzärteln«, »Die müssen sich an Regeln gewöhnen« oder »Schreien ist gut für die Lungen« sind bisweilen gehörte Äußerungen. [...]
Andere Kulturen haben ein anderes Bild von der Bedeutung kindlicher Signale. Für sie sind Laute des Unwohlseins Anlass, sich sofort um das Kind zu kümmern und im Normalfall durch Bieten der Brust das »Stillen« zu bewirken. Diese Haltung ist mit der biologischen Sicht gut vereinbar. Signale entwickeln sich bei Lebewesen aus gutem Grund, da so Bedürfnisse gezeigt werden. Werden sie prompt, widerspruchsfrei und angepasst beantwortet, bildet sich bei dem Sender der Signale, also beim Säugling, das Vertrauen heraus: Meine Zeichen werden verstanden. Resultate der Bindungsforschung haben ergeben, dass so die sichere Basis des Urvertrauens entsteht. Solche Kinder haben ein entspannteres Verhältnis zu ihrer Mutter und anderen Betreuungspersonen und können sich später auch besser lösen als die Kinder, die nicht die Möglichkeit hatten, solch ein solides Urvertrauen aufzubauen.
Warum haben Säuglinge überhaupt das Verlangen, vor allem bei ihrer Mutter zu sein, warum fordern sie die durch das Signal des Weinens und subtile mimisch-gestische Zeichen regulierte Nähe zur Bezugsperson? Wahrscheinlich ist der evolutionsbiologische Grund für die ausgeprägte Orientierung des Kindes auf die Mutter und andere Bezugspersonen das Erfordernis, dass es sehr vielfältig betreut werden muss: Füttern, Stillen, Schützen und Wärmen erfüllen ja nicht alle Bedürfnisse. Die Ausbildung des erwähnten Urvertrauens, die Vermittlung weiterer emotionaler sowie sozialer und intellektueller Reize sind ebenfalls wichtig. Sie lassen sich vor allem dann reibungslos und ohne großen Aufwand vermitteln, wenn die körperliche Nähe der Bezugspersonen gegeben ist, wenn das Kind nicht im Bettchen, Wippstuhl, Laufstall oder Kinderzimmer von den Erwachsenen getrennt ist.
Solange Säuglinge als typische »Traglinge« bei der Mutter oder bei anderen Betreuern sind, befinden sie sich da, wo das wirkliche Leben ist. Hier wirkt sich dann auch die »Drehscheibe Kind« aus, die dazu führt, dass Säuglinge und Kleinkinder Adressaten äußerst vielfältiger sozialer Kontaktaufnahmen sind, die ihrerseits eben gerade jene Vielfalt von Reizen bieten, die für die Ausbildung aller körperlichen, mentalen und psychischen Fähigkeiten des Kindes so wesentlich sind. Diese archetypischen Muster der frühkindlichen Sozialisation erfordern Nähe zwischen dem Säugling und den anderen. Im abgetrennten Kinderzimmer ist sie häufig nicht gegeben."
Aus einem Artikel von Dr. Sabine Schiefenhövel-Barthel und Prof. Dr. Wulf Schiefenhövel, in "Brockhaus Mensch, Natur, Technik - Phänomen Mensch" R.A. Brockhaus, Leipzig u. Mannheim, 1999. Auch zu finden im "Brockhaus in Text und Bild, Ausgabe 2002"