News -  Festgezurrt vor Mutters Busen

Nebelwolf

Namhaftes Mitglied
Aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung:

> Festgezurrt vor Mutters Busen
> Der Säugling ist von Natur aus ein Tragling. Er wird bei uns aber nur
> selten als solcher behandelt. Und das ist schade.
>
> von Sigrid Tinz
> Afrika, vor Tausenden und aber Tausenden Jahren: Durchs
> Savannengebüsch streift eine Horde Menschen, alt und jung. Die
> Allerjüngsten hocken eng an an ihre Mütter gekuschelt auf deren
> ausgeprägten Hüften, die etwas Größeren reiten auf Vaters breiten
> Schultern. Ob neugeboren oder im Krabbelalter, der Nachwuchs ist immer
> dabei, bis er selber laufen kann.
> Menschliche Säuglinge sind seit Urzeiten Traglinge. Anders als ein
> Nestflüchter kommen sie nicht fix und fertig zur Welt und trapsen
> nicht schon im Alter von wenigen Minuten der Mutter hinterher. Sie
> kuscheln sich aber auch nicht wie blinde und taube Nesthockerbabys in
> den heimischen Bau und dösen dort der Rückkehr ihrer Eltern entgegen.
> Schließlich ist der Mensch von Natur aus Nomade, und als Nomade
> schlief er jede Nacht woanders.
> Auch die alten Ägypterinnen und die Maya-Frauen, die Indianersquaws
> oder Maria und Josef trugen ihre Kinder. Meist in Körben, Matten,
> Tüchern oder Netzen, um die Hände zum Arbeiten frei zu haben. Zwei
> Drittel der Weltbevölkerung tragen auch heute noch, hauptsächlich in
> den traditionell orientierten Kulturen Lateinamerikas, Asiens und
> Afrikas.
> Europa, Anfang des 19. Jahrhunderts: Britische Wagenmacher bauen die
> ersten, dreirädrigen Kinderwagen. Bald entwickelt sich die Erfindung
> vom Statussymbol der besseren Leute zum wahren Volkswagen. Tragen gilt
> rasch als ordinär und gerät irgendwann so gut wie in Vergessenheit.
> Jedenfalls bei den Eltern. Aber auch moderne Babys haben das
> Tragling-Dasein noch im Blut, zum einen wegen ihrer kollektiven
> Entwicklungsgeschichte, zum anderen durch neun Monate Schaukeln im
> Mutterbauch.
> Selbst wenn sich die Hersteller noch so sehr um Bequemlichkeit
> bemühen: Der Kinderwagen schafft da nur kümmerlichen Ersatz. In den
> Armen eines vertrauten, warmen und atmenden Menschen getragen zu
> werden fühlt sich eben anders an, als einen Meter vor diesem
> hergeschuckelt zu werden, abgeschnitten von der Außenwelt durch ein
> dickes Federkissen. So manches Baby läßt sich nicht täuschen, weint
> und weint, sobald es hingelegt wird, und mag auch Schnuller,
> Schnuffeltuch und Spieluhr nicht als Ersatz für Mutters Nähe
> akzeptieren. Der kleine Konstantin zum Beispiel wollte immer nur auf
> Mamas Arm. Trinken, schlafen oder einfach zuschauen, was die so
> machte. "Sonst war er ein richtiger Schreiteufel", sagt seine Mutter.
 

Nebelwolf

Namhaftes Mitglied
> Kein Wunder, sagen Ethnologen und Verhaltensbiologen: Der Brauch,
> Babys die meiste Zeit des Tages abzulegen, ist nicht viel älter als
> der erste Kinderwagen. Das ist nichts, verglichen mit der
> stammesgeschichtlichen Entwicklung des Menschen. Lange Jahrtausende
> hindurch bedeutete es höchste Gefahr, alleine auf dem Rücken zu
> liegen, keine Bewegung, keinen Körperkontakt zu spüren. Hunger drohte,
> die Hyänen warteten schon, und Schreien war die einzige Chance,
> wiedergefunden zu werden, bevor die Horde weiterzog. Das sichere
> Bettchen existiert in Babys Vorstellung also erst mal nicht - auch
> wenn sich ältere Kinder später gerne daran gewöhnen.
> Konstantins Eltern kauften ein Tragetuch - und waren auf der Stelle
> begeistert. Der Kleine war friedlich, seine Mutter hatte trotz Kind
> dabei die Hände frei, etwa um Zeitung zu lesen, Wäsche aufzuhängen
> oder um beim Babyflohmarkt kräftig mitdrängeln zu können. Konstantins
> Vater ging wieder gern mit seinem Sohn spazieren - mit strammen
> Schritten durch den Stadtwald, statt in gebückter Haltung hinter dem
> Kinderwagen herzutrippeln und sich abzumühen, nicht bei jedem Schritt
> auf die Bremse zu treten. Und: Festgezurrt vor Mutters Busen, wurden
> Konstantin im Supermarkt oder in der Straßenbahn viel seltener "die
> süßen, süßen Bäckchen" getätschelt, erinnern sich seine Eltern.
> Um so freimütiger werden Bedenken geäußert, wenn der Säugling im
> Tragetuch daherkommt. Besonders in der Großelterngeneration scheint
> oft noch die kollektive Sorge um den gesunden Volkskörper zu stecken:
> Das Kind werde dabei ja verwöhnt und verzärtelt, der Rücken verbogen,
> es ersticke möglicherweise und "überhaupt kann das doch nicht gut
> sein".
> "Ist es aber", sagt die Pädagogin Anja Manns, die für ihre
> Diplomarbeit soziologische, ethnologische, medizinische und
> verhaltensbiologische Erkenntnisse ausgewertet hat. Fazit: Die
> Wissenschaft kann der seit ewigen Zeiten erprobten Technik ein
> Unbedenklichkeitszeugnis ausstellen, in vielen Punkten sogar ein "Sehr
> gut" verteilen.
> Zum Beispiel bietet Tragen dem Gehirn deutlich mehr Reize als Liegen,
> weil das Kind aufrecht in die Welt schaut und nicht nur an den
> Bettchenhimmel, weil jede Bewegung des Tragenden Gleichgewichtsorgane,
> Haut, Nerven und Muskeln stimuliert. Tragen bedeutet außerdem
> ständigen Körperkontakt. Das vermittelt Geborgenheit, und die ist
> wichtig, damit sich der für Sozialverhalten und Gefühlsverarbeitung
> zuständige Bereich des Gehirns richtig entwickeln kann. Tragen
> verlängert den intensiven Kontakt der Schwangerschaft und festigt die
> Bindung zwischen Eltern und Kind. Das Tragen bietet schließlich auch
> den Vätern eine Chance, die Zuschauerrolle zu verlassen - besonders
> wichtig, wenn die Geburt und die ersten Tage wegen irgendwelcher
> Komplikationen nicht so kuschelig waren wie gedacht.
> Bei zu früh Geborenen gehört das sogenannte Känguruhen mittlerweile
> zur Standardtherapie. Selbst extreme Frühchen dürfen mehrere Stunden
> am Tag auf die Brust der Eltern. In ihrem Blut werden weniger
> Streßhormone gemessen, sie schlafen besser, weinen weniger, nehmen
> besser zu und dürfen früher nach Hause.
> Und der Rücken? Schließlich können Kinder erst nach einem halben bis
> dreiviertel Jahr selbständig sitzen. Einem Baby, das seit seinen
> ersten Lebenstagen aufrecht getragen wird, muß es doch einfach die
> Wirbelsäule verbiegen und verdrehen, meinen viele. Der Münchner
> Kinderorthopäde Bernhard Heimkes beruhigt jedoch: "Gesunde Kinder kann
> man durchs Tragen in keiner Weise deformieren." Und eine
> Langzeitstudie der Freiburger Verhaltensbiologin Evelin Kirkilionis
> ergab: Getragene und nicht getragene Kinder unterscheiden sich bei
> ihrer Einschulung in der Häufigkeit der Haltungsschäden nicht. Das
> gilt auch für Kinder, die mehrere Stunden am Tag im Tuch verbracht
> haben. Denn Säuglinge haben noch kein "S" in ihrer Wirbelsäule. Becken
> und Hüfte orientieren sich nach vorne, die Beinchen sind krumm -
> gerade so, daß es sich mit gespreizten angehockten Beinchen eng an den
> Körper der Mutter schmiegen kann.
> Nicht nur die Anatomie ist gut fürs Tragen. Das Tragen ist auch gut
> für die Anatomie, besonders für Hüfte und Oberschenkelkopf. Die
> Spreiz-Anhockstellung bringt beide in die richtige Position
> zueinander, denn bei Babys ist die Hüftpfanne noch weich und knorpelig
> und so flach, daß der Oberschenkelkopf noch nicht fest im Gelenk
> sitzt. Bei manchen Kindern ist das stärker ausgeprägt, bei anderen
> weniger. Im Normalfall wächst es sich aus, und dieser Prozeß läßt sich
> durch das Tragen unterstützen, weil der ständige Druck und die
> Bewegung für eine gute Durchblutung sorgen.
> In Deutschland werden schwere Fälle von Hüftgelenksanomalie durch
> routinemäßige Ultraschalluntersuchungen meist schon in den ersten
> Lebenswochen und damit noch im Anfangsstadium erkannt. Bei manchen
> Kindern, auf Grund von Veranlagung oder falscher Bewegungen, kann sich
> die Hüfte nämlich verrenken, der Oberschenkelkopf kann sogar ganz aus
> der Pfanne herausgleiten. Das tut weh und kann - unbehandelt - ein
> normales Gehen lebenslang unmöglich machen. Je nach Schadensausmaß
> wird der Arzt dem Säugling einen Gips verschreiben, eine Spreizhose,
> breites Wickeln oder tägliches Tragen auf der Hüfte. Alles mit dem
> Ziel, Hüfte und Oberschenkel zueinander in den anatomisch günstigsten
> Winkel zu bringen. Besonders kindgerecht ist wiederum Tragen: Mit
> einem eingegipsten Baby kann man nur schwer kuscheln, und es kann
> wochenlang nicht mal für ein paar Minuten frei strampeln.
> Der Trend ist im Deutschland des 21. Jahrhunderts jedenfalls
> unübersehbar: Man trägt wieder Kind. Wie viele Eltern immer oder hin
> und wieder den Kinderwagen stehen lassen, weiß man zwar noch nicht.
> Aber welche. Die Akademikerinnen sind's, hat Anja Manns in Umfragen
> herausgefunden. Und wenn einen dieses wunderbare Tragen gleich noch
> ein bißchen abhebt von der breiten Masse mit ihren Rappelbuggys,
> Bärchenmustern und gestylten Dreirad-Joggern - um so besser. Ein Blick
> in Ratgeberliteratur, Versandkataloge, Geschäfte und Schwarze Bretter
> zeigt: Es gibt immer mehr Anbieter, Muster, Modelle und Methoden. Es
> gibt sogar zertifizierte Tragetrainerinnen und Kurse für Eltern mit
> kleinen Kindern und mit größeren.
> Das Geld für einen Kurs können sich Trageneulinge durchaus sparen -
> wenn sie erfahrene Freunde oder Verwandte haben, von denen sie sich
> einweisen lassen. Leider wird das entsprechende Know-how nicht mehr
> wie Gutenachtlied oder Fingerspielreim von Generation zu Generation
> vererbt. Wer versucht, sich selbst, das Kind und die bis zu 5,20 Meter
> Stoff nur anhand der mitgelieferten Anleitung in die Wickelkreuz- oder
> die Känguruhtrage zu schlingen, wird schier verzweifeln. Auch
> Tragebeutel, die im ersten Moment einfacher zu handhaben sind, können
> unerwartete Tücken zeigen - ganz abgesehen davon, daß sie nicht
> mitwachsen und sich später auch nicht wie ein Tuch als Picknickdecke
> oder Hängematte verwenden lassen.
> Bei allen Tragehilfen gilt: Falsch geschnallt oder geschnürt (zu
> locker, zu tief, zu hoch) - schon pendelt das Köpfchen bei jedem
> Schritt. Und statt sich gehockt an Papas Bauch zu schmiegen, baumeln
> Babys Beine vor seinen Oberschenkeln herum. Auch die zur Zeit sehr
> beliebte Variante, das Kind mit Blick nach vorne vor dem Bauch zu
> tragen, ist vom orthopädischen Standpunkt nicht zu empfehlen. Das Kind
> wird dabei ins Hohlkreuz gedrückt, die Beine hängen, und das Gewicht
> trägt nicht der windeldicke Po, sondern bei Mädchen das noch weiche
> Schambein, bei Jungen die Hoden.
> Die Eltern sollten auch auf sich selber aufpassen: Ein Neugeborenes
> ist zwar fürs Tragen wie geschaffen, ein zivilisierter
> Schreibtischmensch aber nicht mehr. Also heißt es richtig binden - den
> Schwerpunkt möglichst nah und hoch am Körper. Und mit kurzen
> Tragezeiten anfangen, aber dafür sofort und regelmäßig. Die Muskeln
> passen sich dann, ähnlich wie im Fitnessstudio, dem wachsenden Gewicht
> des Kindes an. In einem Jahr von drei auf zehn Kilo ist ein
> akzeptables Trainingsziel.
> Ohnehin ist die tägliche Tragedauer in vielen Studien über die
> positiven Wirkungen auf Körper, Seele und Geist auf eine halbe Stunde
> täglich begrenzt. Mütter, die ihre Babys nur selten tragen -
> beispielsweise weil der pralle Stillbusen ständig schmerzt, die
> Kaiserschnittnarbe schlecht heilt, weil Mutter und Kind einzeln schon
> genug in der Sommerhitze schwitzen oder weil es Drillinge sind -,
> brauchen also kein schlechtes Gewissen zu haben.
> Auch jene Eltern nicht, die ganz und gar auf Indianertuch oder
> futuristische Rückenkiepe verzichten. Nach Anja Manns ist Tragen in
> erster Linie "bewegter Körperkontakt". Auf den kommt es an, und den
> erlebt mehr oder weniger jedes Kind, sei es im Fliegergriff, als
> Hoppe-Hoppe-Reiter, wenn es in den Schlaf gewiegt wird oder Mama beim
> Telefonieren auf der Hüfte sitzt.
> Konstantins Eltern haben in der ersten Euphorie den Kinderwagen in den
> Keller verbannt, ihn aber nach ein paar Monaten wieder hochgeholt, wie
> sie sich lachend erinnern. Im Großstadt-dschungel eigne sich das
> kombinierte Modell besser als "pure Ursprünglichkeit". Denn ein
> Kinderwagen ist schon prima zum Einkaufen, egal ob Milch und
> Waschmittel oder das Kind drin liegen. Und als praktisches Reisebett,
> beim Joggen oder um das Kind samt Badezeug zum Babyschwimmen zu
> kutschieren, eignet er sich auch sehr gut. Beim Wandern, Zugfahren
> oder als "Für den Notfall immer dabei"-Utensil ist dagegen das Tuch
> unschlagbar.
 

Nebelwolf

Namhaftes Mitglied
> Als Konstantin ein halbes Jahr alt war, wollte er immer weniger ins
> Tuch, sondern sich bewegen, Finger, Zehen, Nasenlöcher und die Welt
> entdecken. Und seit er laufen kann, zieht er - Tragling hin, Tragling
> her - den Buggy eindeutig vor: Er kann rein und raus, wie er will,
> kann Bär Edith und stapelweise Bilderbücher einpacken. Und er sitzt
> genau in der richtigen Höhe, um vorbeikommende Hunde zu befingern.
> Es sich so bequem wie möglich zu machen steckt der Menschheit offenbar
> ebenso in den Genen wie das kollektive Bild vom Getragenwerden.
> In unserer Serie "Die lieben Kleinen" erschienen bisher "Geburt" (7.
> 11.), "Schreien" (14. 11.) und "Stillen" (21. 11.). Nächste Woche Teil
> fünf und Schluß: "Sauber werden".
>
>
> Text: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 05.12.2004, Nr. 49 /
> Seite 69




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