Menschenkinder sind Traglinge
Wenn ein Mensch zur Welt kommt, so ist er im Vergleich zum "ausgewachsenen" Menschen, wie wir alle wissen, noch ein recht unselbständiges, hilfebedürftiges Wesen.
Biologen unterscheiden den Nachwuchs der verschiedenen Tierarten in Nesthocker, Nestflüchter und Traglinge. Der Mensch zählt zur letzten Kategorie. Warum ist das so?
Nesthocker bleiben, wie der Name schon sagt, eine bestimmte Zeit nach ihrer Geburt im von den Eltern gebauten Nest und werden dort von ihnen mit allem versorgt, was sie brauchen. Nestflüchter dagegen sind gleich nach der Geburt so selbständig, dass sie die Eltern entweder gar nicht mehr brauchen, oder sich im Schutz der Herde frei bewegen und zur Mutter zum Trinken kommen, wenn sie es brauchen. Traglinge (dazu zählen die Primaten, also auch der Mensch) dagegen werden dicht am Körper der Mutter getragen und verlassen diesen ganz zu Beginn ihres Lebens gar nicht und mit der Zeit umso mehr, je ausgereifter ihre Körperfunktionen und Fähigkeiten werden. Ein Tragling hat sich zum Ende der Schwangerschaft weit genug entwickelt, um aus seiner "Schutzhülle" in die ungeschützte Außenwelt entlassen zu werden. Das heißt aber nicht, dass er für sich selbst sorgen kann. Um den Geburtsschock beim Eintritt in die für ihn gefährliche Außenwelt zu vermindern, sind bestimmte Körperfunktionen noch beeinträchtigt, z.B. das Seh- und Hörvermögen. Bestimmte Hirnregionen nehmen erst im Laufe der Zeit NACH der Geburt ihre Funktion auf! Dies gewährleistet ein langsames Herantasten an die Umwelt und einen gewissen Schutz vor Reizüberflutung. Somit ist ein Tragling eigentlich eine "physiologische Frühgeburt", die den vollen Schutz durch engen Körperkontakt benötigt.
Man kann beim menschlichen Neugeborenen und auch älteren Baby sehr gut weitere Eigenschaften erkennen, die ihn zum Tragling machen: einerseits die Beugung in den Gliedmaßen, andererseits der ausgeprägte Greifreflex. Wer kennt ihn nicht, den "Wäscheleine-Test"? Dies sind alles Relikte aus der Zeit, in der die Menschen noch ein Fell besaßen und die Babies sich daran festklammern konnten. Heute haben wir zwar kein Fell mehr, können aber einfache Tragehilfen benutzen.
Vom Körper des Tragenden aus empfindet und erfährt das Baby seine neue Umwelt. Es kann sich voller Vertrauen darauf verlassen, dass es geschützt ist, dass es jederzeit Nahrung aufnehmen kann und sich von den vielen neuen Eindrücken zurückziehen und schlafen kann.
Das Kind wird mit der Zeit, seinen wachsenden Fähigkeiten entsprechend, immer öfter und für immer längere Zeit in der Lage sein, den Körper des Tragenden zu verlassen und selbständig die Umwelt zu erkunden.
Was passiert nun aber mit einem Neugeborenen, das "abgelegt" wird?
Es protestiert und fängt womöglich an zu weinen. Da ein Baby in diesem Alter noch nicht zu vernunftmäßigem Denken in der Lage ist, resultiert dieses Weinen aus seinen Urinstinkten, die ihm signalisieren, dass es in Gefahr schwebt, wenn es sich nicht in seiner schützenden Umgebung befindet, welche in der allerersten Zeit der Körper des Tragenden für es ist. Es weiß ja noch nicht, dass ihm im Kinderbett oder auf der Krabbeldecke keine Gefahr droht, und es ist auch noch nicht in der Lage, dies zu begreifen.
Hier wird ein Dilemma deutlich: Die Urinstinkte und Erwartungen des Menschenbabys stimmen nicht mit unseren heutigen Lebensgewohnheiten überein. Wir sollten nicht versuchen, Kinder in unsere gesellschaftlichen Normen hinein zu pressen. Schließlich verändern sich körperliche Fähigkeiten und Instinkte der Menschheit im Laufe der Evolution nur sehr langsam im Vergleich zum rasanten industriellen "Fortschritt".
"Während seiner Zeit im Mutterleib sollte es dem kleinen Menschenwesen noch vergönnt sein, den Entwicklungsstadien seiner Vorfahren geradlinig zu folgen, vom Einzeller durch das amphibische Stadium und weiter zum geburtsbereiten homo sapiens, ohne daß ihm viel geschieht, worauf die Erfahrung seiner Vorfahren im Mutterleib es nicht vorbereitet hätte." (Jean Liedloff, Auf der Suche nach dem verlorenen Glück, Kap. 3, Der Beginn des Lebens)*
Geben wir also unseren Kindern die Gelegenheit, sich langsam und auf sanfte, für ihr Empfinden sichere Weise in unserer modernen Welt zurechtzufinden, indem wir sie (vor allem zu Beginn ihres Lebens) so oft und so lang sie es möchten, tragen. Schenken wir ihnen das Vertrauen, welches sie so dringend benötigen, um zu selbstsicheren, selbständigen Erwachsenen zu werden.