und das habe ich noch gefunden.
Vier Jahre Amnesie
Neuroforscher sind dem kindlichen Vergessen auf der Spur.
Die ersten Lebensjahre eines Menschen liegen im Dunkeln. Nach der frühesten Erinnerung gefragt, wird sich kaum jemand an ein Ereignis erinnern können, das deutlich vor dem vierten Geburtstag stattfand. Seit Sigmund Freud dies entdeckte und Kindheitsamnesie nannte, sind Gedächtnisforscher auf der Suche nach den verlorenen Erinnerungen. Haben Babys überhaupt ein Gedächtnis? Oder sind die Erinnerungen sogar noch beim Erwachsenen vorhanden und nur nicht mehr zugänglich? Zahlreiche Theorien entstanden, um Licht in das frühe Gedächtnis zu bringen. Nun ist eine neue hinzugekommen.
Zumindest eine Frage lässt sich aber mittlerweile sicher beantworten: Babys verfügen sehr wohl über ein Gedächtnis. Schließlich nehmen Menschen gerade in den ersten Jahren ein enormes Wissen auf – man denke nur an das Sprechenlernen –, und diese Dinge werden auch nicht mehr vergessen. Psychologen unterscheiden deshalb zwei Formen von Gedächtnis: ein Faktengedächtnis und ein episodisches Gedächtnis. Das Faktengedächtnis arbeitet auch bei Kleinkindern schon wunderbar, nur die Erinnerung an zusammenhängende Episoden setzt erst etwa mit dem vierten Lebensjahr ein.
Freuds Erklärung für diese Kindheitsamnesie befriedigt die Forscher schon lange nicht mehr. Er glaubte nämlich, dass die Kinder sexuelle Gefühle für ihre Eltern entwickeln und diese aus Scham unterdrücken – ein völliger Erinnerungsverlust sei die Folge. "Es existieren so gut wie keine Hinweise darauf", sagt Alan Baddeley, Psychologe an der University of Bristol und einer der führenden Gedächtnis-Experten. Für Baddeley liegt der Schlüssel zur Kindheitsamnesie in den noch nicht vorhandenen sprachlichen Fähigkeiten. Erst wenn Kinder sprechen können, vermögen sie demnach episodische Erlebnisse zu speichern und später wieder abzurufen, denn die Sprache dient ihnen als Ordnungssystem.
In eine ähnliche Richtung geht eine viel diskutierte Theorie des Salzburger Psychologen Josef Perner: "Die Kinder haben sehr wohl ein episodisches Gedächtnis", sagt er. "Sie verstehen nur nicht, dass sie sich an frühere Ereignisse erinnern." Demnach speichert ein Dreijähriger ein Erlebnis genauso ab wie irgendwelche Fakten, die er am selben Tag gelernt hat. Ihm fehle aber die Fähigkeit, an die Erinnerung das Schildchen "Habe ich selbst erlebt" zu kleben. Die Erinnerung wird zu einer reinen Beschreibung, eine erzählte Geschichte erscheint genauso real wie das eigene Abenteuer. Wenn sich das episodische Gedächtnis dann voll entwickelt hat, erscheint alles früher Erlebte unwirklich und wird leicht vergessen. Allerdings gibt es Hinweise, dass Außergewöhnliches trotz Kindheitsamnesie im Gedächtnis bleiben kann. Dazu gehört zum Beispiel die Geburt eines Geschwisters oder ein Missbrauch.
Doch damit ist noch nicht die Frage geklärt, was sich denn im vierten Lebensjahr ändert. Die Antwort glaubt der Psychologe Stephen Chistman von der University of Toledo in Ohio gefunden zu haben: "Mir war aufgefallen, dass das episodische Gedächtnis der Kinder genau dann einsetzt, wenn die Verbindung zwischen den beiden Hirnhälften voll funktionsfähig wird.“ Christman nahm daher an, dass die Zusammenarbeit der Hirnhälften für das Speichern von Ereignissen nötig ist. Fakten, glaubt er, verarbeiten die Hemisphären dagegen getrennt. Um seine Theorie zu beweisen, untersuchte Christman allerdings keine Kinder, sondern Linkshänder. Bei ihnen ist die Verbindung zwischen den Hirnhälften, das Corpus callosum, meist kräftiger ausgebildet, und die Hemisphären kooperieren stärker. Daher sollten Linkshänder ein besseres episodisches Gedächtnis haben. "Tatsächlich haben sogar Rechtshänder mit nahen linkshändigen Verwandten ein größeres Corpus callosum und schneiden bei episodischen Gedächtnisaufgaben besser ab als normale Rechtshänder", sagt Christman. Dagegen seien Letztere bei Fakten überlegen.
Christmans Ergebnisse liefern durchaus einen Hinweis auf die Bedeutung des Corpus callosum für den kindlichen Gedächtnisverlust – allerdings noch lange keinen Beweis. Doch immerhin kann Christman auch erklären, warum einschneidende Ereignisse trotz Kindheitsamnesie im Gedächtnis bleiben: "Große emotionale Erregung führt zu einer enormen Aktivität der Nervenzellen“, so der Psychologe. "Sie kann so stark werden, dass sie sogar das unfertige Corpus callosum überspringt.“ (Süddeutsche Zeitung)