Noch bevor ich die anderen Posts gelesen hab:
Ich habe "Kinder brauchen Märchen" (Bettelheim) daheim und auch ausschnittsweise gelesen (ganz liest das wohl niemand :verleg - dick, klein geschrieben, viele sehr detaillierte Märchenanalysen). Hat mich SEHR überzeugt. Der Zugang ist ein sehr freudianischer, aber als solcher verblüffend stringent.
Märchen wirken nicht durch die oberflächliche Handlungsstruktur sondern sprechen verborgene Ängste und Spannungen im Kind an, so der Tenor des Buches. Ich hab mal anderswo ein paar Zitate aus dem Buch gebracht, ich kopier sie euch hier rein:
"[D]ie allermeisten sogenannten 'Kinderbücher' wollen unterhalten oder informieren - oder auch beides. Sie sind größtenteils inhaltlich so schal, daß sie kaum etwas vermitteln, was für das Kind von Bedeutung wäre. [...] Soll eine Geschichte ein Kind fesseln, so muß sie es unterhalten und seine Neugier wecken. [...] Dabei darf sie die kindlichen Nöte nicht verniedlichen; sie muß sie in ihrer Schwere ernst nehmen und gleichzeitig das Vertrauen des Kindes in sich selbst und in seine Zukunft stärken. In dieser und in manch anderer Hinsicht ist sowohl für Kinder als auch für Erwachsene - von wenigen Ausnahmen abgesehen - in der gesamten 'Kinderliteratur' nichts so fruchtbar und befriedigend wie das Volksmärchen. [...] Mit den Begriffen des psychoanalytischen Persönlichkeitsmodells ausgedrückt: Die Märchen vermitteln wichtige Botschaften auf bewußter, vorbewußter und unbewußter Ebene entsprechend ihrer Entwicklungsstufe. Da es in ihnen um universelle menschliche Probleme geht und ganz besonders um solche, die das kindliche Gemüt beschäftigen, fördern sie die Entfaltung des aufkeimenden Ichs; zugleich lösen sie vorbewußte und unbewußte Spannungen. Sie verleihen den Es-Spannungen Gestalt und Glaubwürdigkeit und zeigen Möglichkeiten auf, diese in Übereinstimmung mit den Erfordernissen des Ichs und des Über-Ichs zu lösen. Mein Interesse an Märchen gründet aber nicht auf einer solchen fachlichen Analyse seiner Vorzüge, sondern ist das Ergebnis einer Frage, die sich mir bei meinen Erfahrungen mit Kindern aufdrängte: Warum finden normale wie abnormale Kinder aller intellektuellen Entwicklungsstufen mehr Gefallen an Volksmärchen als an jeder anderen Art von Kindergeschichten? Je mehr ich mich bemühte zu verstehen, warum das Märchen so bezeichnend für das innere Leben des Kindes ist, um so klarer wurde mir, daß das Märchen in einem viel tieferen Sinn als jede andere Lektüre dort einsetzt, wo sich das Kind in seiner seelischen und emotionalen Existenz befindet. In den Märchen kommen die schweren inneren Spannungen des Kindes so zum Ausdruck, daß es diese unbewußt versteht; und ohne die heftigen inneren Kämpfe des Heranwachsens herunterzuspielen, bieten sie Beispiele dafür, wie bedrückende Schwierigkeiten vorübergehend oder dauerhaft gelöst werden können."
Also, das ist mal die Basis seiner Überlegungen. Später gibt es ein Unterkapitel zur Frage, warum Märchen verpönt geworden sind, da schreibt er u.a.:
"Es ist ein merkwürdig begrenztes, einseitiges Bild der Erwachsenen und des Lebens, das die Kinder als das einzig richtige übernehmen sollen. Mit dem Aushungern der Phantasie des Kindes wollte man die Riesen und Menschenfresser des Märchens - also die finsteren Gewalten im Unbewußten - ausrotten, damit sie die Entwicklung des rationalen Verstandes nicht hemmen. Das rationale Ich sollte vom Säuglingsalter an die Oberherrschaft ausüben! Um dies zu bewerkstelligen, mußte nicht etwa das Ich die dunklen Kräfte des Es besiegen, sondern man wollte das Kind daran hindern, daß es seinem Unbewußten Aufmerksamkeit schenkte oder Geschichten hörte, die das Unbewußte ansprechen. [...] Als man nicht mehr leugnen konnte, daß das Kind von tiefen Konflikten, Ängsten und Sehnsüchten erfüllt ist und von allen möglichen irrationalen Vorgängen gebeutelt wird, zog man den Schluß, an müsse das Kind, das sich schon vor so vielem fürchtet, von allem fernhalten, das furchterregend aussieht. Eine Geschichte kann tatsächlich manchen Kindern Angst einflößen; sobald sie aber mit Märchen besser vertraut werden, verschwinden die furchterregenden Aspekte, während die tröstlichen Züge immer stärker vorherrschen. Das ursprüngliche Mißvergnügen des Angstgefühls verwandelt sich dann in die große Freude, die man empfindet, wenn die Angst mit Erfolg angegriffen und gemeistert wird. [...] Kinder lieben Märchen nicht deshalb, weil deren Bilderwelt ihren inneren Vorgängen entspricht, sondern trotz all ihrer zornigen, angsterfüllten Gedanken, denen das Märcen Form und Inhalt gibt, einzig und allein deshalb, weil sie stets zu einem guten Ende führen, wie es sich das Kind von sich aus nicht vorstellen kann."
Das ist jetzt alles sehr abstrakt , wird aber an Hand konkreter Beispiele sehr klar. Hier mal eins:
"In 'Rapunzel' erfahren wir, daß die böse Fee das Mädchen in einen Turm sperrte, als sie zwölf Jahre alt geworden war. Es ist also gleichfalls die Geschichte eines Mädchens im Pubertätsalter und einer eifersüchtigen Mutter, die sie nicht zur Unabhängigkeit gelangen lassen will - ein typisches Adoleszenzproblem, das durch die Vereinigung Rapunzels mit ihrem Königssohn eine glückliche Lösung findet. Ein fünfjähriger Junge gewann aber völlig anderen Trost aus diesem Märchen. Als er erfuhr, daß seine Großmutter, die tagsüber für ihn sorgte, wegen einer schweren Krankheit ins Krankenhaus gehen mußte - seine Mutter arbeitete ganztags, der Vater lebte nicht bei ihnen - , bat er, man möge ihm die Geschichte von Rapunzel vorlesen. In dieser kritischen Zeit seines Lebens waren zwei Elemente des Märchens für ihn wichtig. Das eine war der Schutz vor allen Gefahren, mit dem die Ersatzmutter das Kind umgab - eine Vorstellung, die ihm in jenem Augenblick sehr verlockend erschien. [...] Noch wichtiger war für den Jungen ein weiteres zentrales Element: Rapunzel fand das Mittel, um ihrer Notlage zu entrinnen, an sich selbst - es war ihr langes Haar, an dem der Königssohn in ihr Turmzimmer hinaufkletterte. Daß der eigene Körper zur Rettung dienen kann, verlieh ihm die Überzeugung, daß auch er im Notfall Sicherheit in sich selbst finden würde."
Also, man sieht, Bettelheim ist stark Freud-inspiriert, und wo ich jetzt nicht so die Freudianerin bin, aber das spricht mich schon stark an. Ich glaube eben auch nicht das, was heute so ein Gemeinplatz ist, dass das Kind von sich aus eine quasi konfliktfreie Persönlichkeit ist, ich glaube, der Mensch ist ein ambivalentes Wesen und hat sowohl konstruktive als auch destruktive Kräfte in sich, und wir haben heutzutage eine Tendenz dazu, die destruktiven wegzuleugnen. Und ich erlebe es auch so, dass das Volksmärchen auf ganz archaische Art dieses Destruktive quasi hervorholt, durcharbeitet und letztendlich auflöst. Es geht zB mMn im "Wolf mit den sieben Geißlein" nicht um die Frage, wie ich einen Wolf am sadistischsten killen kann. Es geht um die totale Überwindung der Urangst (personifiziert im Wolf), selbst vernichtet zu werden. Gerade der "Wolf mit den sieben Geißlein" spricht sicher sehr, sehr viele Kinder an, weil's in dem Märchen darum geht, dass man auf sich gestellt ist (die Mutter verlässt das Haus) und von außen plötzlich eine übermächtige Gefahr eindringt, und das ist sicher eine Urangst jedes Menschen. Diese Gefahr muss am Ende deshalb plakativ beseitigt werden. Um Tierschutz geht's da nicht.