Ja, es ist Gottlob noch eine Sensation. Wenn man von einem tödlichen Autounfall hört, ist es keine mehr. Wenn nicht besondere Umstände hinzutreten (z.B. mehrere Tote oder getötete Kinder), dann kommt das nicht mal mehr in die Nachrichten.
Ein tot aufgefundenes Kind dagegen schon. Das ist ein gutes Zeichen, denn es bedeutet, dass es noch nicht zur Normalität geworden ist.
Andererseits berichtet die Presse natürlich nicht über jedes gestorbene Kind. Aber über dieses schon. Und warum? Weil die Dinge auf jeden Fall anders liefen, als es zu erwarten gewesen wäre: hätte die Frau (wie sie sagt) ihr bis dahin völlig unauffälliges Kind ins Bett gebracht und es später (wie sie sagt) bewegungslos in seinem Bett aufgefunden, danach die Feuerwehr oder den Notarzt gerufen und der hätte bspw. einfach nur den Tod des Mädchens festgestellt - dann hätten wir davon nie erfahren. Plötzliche Kindstode gibt es immer wieder, das ist tragisch, aber keine Meldung für die Öffentlichkeit.
Hier aber tauchte wegen des Zustands des Kindes (Zeichen von Unterernährung und Dehydrierung) sofort ein schrecklicher Verdacht auf - der bis jetzt ein Verdacht geblieben ist. Nämlich, dass die Mutter ihr Kind hat verhungern und verdursten lassen.
Und das ist zum Glück noch immer so eine Ausnahme, dass es eine Sensation ist, die an die Öffentlichkeit gelangt. Eine normale Mutter würde das Leiden ihres Kindes nicht mitansehen, sondern alles für ihr Kind tun. Kinder können einem den letzten Nerv rauben und bringen eigentlich jeden frührer oder später mal an seine Grenzen. Aber normalerweise haben wir alle in uns eine fast unüberwindliche, natürliche Hemmschwelle, unserem Kind aktiv oder durch Unterlassen Schaden zuzufügen. Und wenn diese Hemmschwelle so weit gesunken ist, dass ein Kind zu Schaden kommen und sogar sterben kann, dann ist das erschreckend.
Für mich gilt das umsomehr, als ich zwar meinen Sohn über alles liebe und ihn unter Einsatz meines Lebens vor Gefahren schützen würde. Aber ich kenne Momente in seinem noch nicht einmal zwei Jahre währenden Leben, wo ich wütend auf ihn war, wo ich entnervt war, wo ich nicht weiterwusste. Es gab sogar Momente (wenn auch wenige), wo ich einen Augenblick dachte: "DAS hast du so gewollt - du WOLLTEST ein Kind - jetzt bade es auch aus. Aber eigentlich war es ohne Kind doch auch ganz nett."
Und dann liest man von einer Mutter, die nicht gut genug für ihr Kind gesorgt hat (wenn sich der Verdacht denn überhaupt bestätigt), und nun ist ihr Kind tot. Die eigenen, negativen Gedanken, die ich gelegentlich gegenüber meinem Kind habe, schaffen eine Nähe zu diesem Geschehen - denn ich könnte sie NIEMALS in die Tat umsetzen, aber hier scheint es geschehen zu sein. Das interne Sicherheitssystem hat versagt.
Es gibt noch eine weitere Sensation, die diesen Fall für die Öffentlichkeit interessant macht, und dass ist das Verhältnis der Behörden zu dem Fall. Wir haben in diesem Land Jugendämter, die solche Vorgänge verhindern sollen. Das können sie natürlich ncht, wenn sie nichts davon wissen - aber hier kannten sie den Fall und haben die Mutter durch eine Stiftung betreuen lassen. Wenn also nicht ziemlich überraschend etwas ganz dramatisches passiert ist, dann hat auch dieses Sicherheitssystem versagt.
Solche Vorgänge betreffen uns alle - oder sie könnten es eines Tages mal tun. Nämlich dann, wenn sich in unserem Umfeld eine solche Katastrophe anbahnt, und wir vielleicht diejenigen sind, die es erkennen könnten oder müssten.
Aggressive Gedanken gegenüber dem eigenen Kind sind etwas ganz normales. Vielleicht hat sie nicht jeder, aber die meisten haben sie von Zeit zu Zeit. Nicht alle gestehen sie sich selbst ein oder würden es sogar gegenüber Dritten eingestehen - oft nichtmal gegenüber dem eigenen Partner, aus Scham oder Schuldgefühl. Für diese Gedanken braucht sich aber keiner zu schämen, und Schuldgefühle sind auch erst dann angebracht, wenn man zugelassen hat, dass diese Gedanken und Gefühle das eigene Handeln zum Nachteil des Kindes beeinflussen. Bei mir, meiner Frau, und allen Eltern, die ich persönlich gut kenne und im Umgang mit ihren Kindern erlebe, erlischt das Gefühl spätestens beim nächsten Lächeln des Kindes. Und selbst wenn man am liebsten davonlaufen würde, steht man halt doch nachts auf, um die Flasche zu geben, oder die Windel zu wechseln, oder man macht zum hundertsten Mal die Sauerei weg, die der werte Nachwuchs mal wieder angerichtet hat.
Woran könnte ich erkennen, dass die Beisshemmung bei jemandem, den ich kenne, versagen könnte? Ich glaube, ich könnte es nicht unterscheiden. Das einzige Indiz wäre ein Kind, das Anzeichen zeigt. Aber ich als Laie könnte Unterernährung oder Dehydrierung nicht als Zeichen von Vernachlässigung erkennen, wenn mir die Mutter sagen würde, "ja, die Kleine ist zur Zeit krank - ich war schon beim Kinderarzt mit ihr". Ich würde der Kleinen gute Besserung wünschen, aber doch nicht sofort das Jugendamt anrufen!
Die Sozialarbeiterin, die aber ja nun mal schon in den Vorgang eingebunden war - die hätte es aber doch erkennen müssen! Sie hätte von einer Erkrankung wissen müssen, und sie war doch überhaupt nur dort, weil die Mutter sich überfordert fühlte. Die einzige Erklärung, die ich habe (vorausgesetzt, meine Mutmassungen erweisen sich als zutreffend), ist, dass sie ihren Job nicht gern und daher auch nicht gut gemacht hat. Vielleicht gingen ihr diese Frau und ihr Kind auf die Nerven, und sie war froh, da wieder weg zu kommen. Wird schon nichts passieren - in den letzten neun Monaten ist auch nichts passiert, und in zehn Tagen bin ich ja schon wieder da. Dann langt's auch noch, sich davon zu überzeugen, dass es dem Kind gut geht.
Wenn das so war, werden wir es wahrscheinlich nie erfahren, denn sie wird es niemals zugeben. Aber wenn das so war, dann hätte sie diesen Job mit dieser immensen Verantwortung nicht annehmen dürfen. Denn wenn das so war, dann ist sie in meinen Augen die Hauptschuldige am überflüssigen Tod dieses Mädchens.