Hallo,
zunächst mal eine einfache Antwort auf die einfachste Frage: Wenn Ihr, und vor allem Deine Tochter, Euch bei der Therapeutin nicht gut aufgehoben fühlt, dann sucht Ersatz, und zwar so schnell wie möglich, denn ein guter Therapeut ist bei solch einem Problem zu wichtig, um sich mit einem schlechten Therapeuten abzufinden. Leider sind in dieser Zunft neben vielen extrem kompetenten Menschen auch einige unterwegs, die ihren Beruf verfehlt haben. Und darüber hinaus gibt es auch immer Therapeuten, die zwar gut sein mögen, aber mit denen man einfach nicht kann, denen gegenüber man sich einfach nicht öffnen mag. Wer welcher Gruppe angehört, merkt man leider erst nach einiger Zeit, und ja: Es ist nervig, sich dann wieder auf die Suche zu machen, aber es ist leider notwendig.
Ich hatte mich zum Beispiel etwas darüber gewundert, dass Du schriebst, Deine Tochter könne nicht mal bei der Oma übernachten und dann ein paar Postings später erklärtest, die Therapeutin sei der Ansicht, dass Deine Tochter bereit sei für die Klassenfahrt. Daraus boten sich drei mögliche Schlussfolgerungen an: Entweder in Deinen Beschreibungen fehlt etwas. Oder Du bist eine OBM, eine "overbearing mother", eine überbeschützende Mutter, die ihre eigenen Loslösungsprobleme auf das Kind projeziert. Oder die Therapeutin ist schlecht.
Momentan scheint mir Letzteres am Wahrscheinlichsten, und es kann leider nicht mehr als scheinen, weil aus der Ferne, mit den wenigen Informationen, die zur Verfügung stehen, alles immer nur Ratewerk sein kann.
Wenn jemand so starke Trennungsängste hat, dass er nicht einmal bei einem nahen Verwandten übernachten kann, wenn ein Jugendlicher panische Angst davor hat, seine Eltern zu verlieren, in der Zeit, in der er nicht da ist, dann ist das ein großes Problem, dass nur durch viele kleine Schritte gelöst werden kann, auch wenn es durchaus Erwachsene gibt, die an den großen, reinigenden Schock glauben, die der Ansicht sind, dass man die verwöhnten Rotzblagen einfach mal ins kalte Wasser werfen, also zum Beispiel für zwei Wochen oder so auf eine Klassenfahrt nach Italien zwingen, muss, damit sie lernen, ohne Mamma und Pappa zu sein, und das mag tatsächlich so bei den kleinen Trennungsproblemen so sein, die sich öfter als man denkt am Übergang zwischen Kindheit und Pubertät finden, aber bei einer Jugendlichen, die so wie Du es beschreibst ein richtig großes Problem mit dem Trennen hat, kann das Ergebnis völlig anders ausfallen, als man es sich vorgestellt hat, weshalb eine fachkundige Situationseinschätzung, und ich meine damit durch einen Psychologen, der sich ausgiebig mit dem Problem befasst hat, und nicht durch die Lehrer, oder durch Dich, absolut unerlässlich ist, bevor man die Entscheidung trifft, sein Kind in einer solchen Situation gegen seinen Willen auf eine lange Auslandsreise zu schicken.
Da ist das mögliche Ergebnis eins: Deine Tochter merkt nach ein paar Stunden, vielleicht ein paar Tagen, dass Klassenfahrten toll und Italien ein schönes Land ist. Das wäre natürlich optimal.
Aber das ist leider auch das mögliche Ergebnis zwei: Deine Tochter durchlebt Höllenqualen, muss ständig an Dich denken, hat panische Angst, dass Dir etwas passiert, ruft Dich 30 mal am Tag an, kann nachts nicht schlafen und die Reise nicht genießen. Das wiederum kann zunächst einmal ein Riesenchaos zur Folge haben, aber vor allem kann es dazu führen, dass Deine Tochter nach der Reise Erholung braucht, keinen Schritt weiter gekommen ist, möglicherweise sogar Rückschritte gemacht hat. Und es kann dazu führen, dass sie durch ihre Probleme während der Fahrt zu einer Außenseiterin im Klassenverband wird.
Ein guter Therapeut kann solche Probleme auffangen, durch eine anständige Vorbereitung sogar steuern, aber es wird während der Reise, in Italien, mit ziemlich großer Wahrscheinlichkeit, kein solcher Therapeut zur Verfügung stehen. Deine Tochter wäre dort allein mit ihren Lehrern.
Ich persönlich würde mir zunächst einmal von der derzeitigen Therapeutin erklären lassen, warum sie glaubt, dass Deine Tochter bereit für die Klassenfahrt ist. Außerdem würde ich mir im Detail erläutern lassen, wie sie vorhat, auf Probleme einzugehen, die während der Fahrt entstehen. Die Antworten sollten detailliert sein, und auf keinen Fall die Worte "schaun wir mal" enthalten.
Danach würde ich das Gespräch mit den betreuenden Lehrern suchen, ihnen das Problem schildern, und mir anhören, wie sie solche Probleme auffangen würden - falls sie mitfahren sollte, ist es wichtig, dass die Lehrer zu 100 Prozent, und zwar alle, und das nicht nur 99,9 Prozent, mit an Bord sind. Wenn dem so sein sollte, würde ich auch mein Kind in die Gespräche mit den Lehrern mit einbeziehen, damit sie von denen Lehrern hört, dass sie nicht alleine ist. Idealerweise sollte dabei auch die Therapeutin dabei sein, und sie sollte dazu bereit sein, während der Reise für alle Beteiligten, also auch die Lehrer ansprechbar zu sein.
All' das ist sehr, sehr viel, aber ich persönlich würde bei meinen Söhnen das Risiko nicht eingehen, wenn die Rahmenbedingungen samt aller Faktoren bei weniger als 100 Prozent liegen, wenn sich nicht bereits vor einer solchen Reise Bewegung gezeigt hat. Und damit meine ich echte Bewegung, also zum Beispiel Übernachten bei Oma oder Freunden, und nicht den subjektiven Eindruck einer Therapeutin, der aus einer Reihe von Gesprächen heraus entstanden ist.
Solltest Du nach Begutachtung aller Faktoren zu dem Ergebnis kommen, dass die Rahmenbedingungen nicht stimmen, würde ich darüber ebenfalls mit den Lehrern sprechen. Ich könnte mir vorstellen, dass die Schule vielleicht ein Auge zudrückt, wenn Du alle Karten auf den Tisch gelegt hast.
Sollte sich die Schule allerdings stur stellen, hättest Du drei Möglichkeiten, um Deine Tochter zu Hause zu halten. Zum Einen könntest Du versuchen, die Therapeutin doch noch dazu zu überreden, ein Attest auszustellen. Nummer zwei, sich ein falsches Attest zu besorgen, ist eine Straftat und deshalb am Besten zu vermeiden. Bei Nummer drei, der Verletzung der Schulpflicht, handelt es sich derweil um eine Ordnungswidrigkeit, die allerdings gar nicht mal so teuer zu sein scheint.
Viele Grüße,
Ariel