Hallo,
@Ennie: Ich weiß. Ich bin Kriminologe (Schwerpunkt: Jugend-Kriminalpsychologie) und habe täglich mit Therapeuten, Patienten und Leuten, die Patienten sein sollten, zu tun. Das Verhalten der Tochter ist schon auffällig, wie Kikki es beschreibt, aber es ist schwer, aus der Entfernung zu beurteilen, was dahinter steckt. Dagegen, dass sie ein psychologisches Problem hat spricht, dass sie ja mit ihrem Vater, wenn sie mit ihm allein ist, normal redet, also nur so zurück gezogen ist, wenn sie nicht mit ihrem Vater alleine ist. Gut möglich, dass sie einfach nur ihren Widerstand gegen diese Wochenenden zeigt.
Schaden würde eine Therapie bestimmt nicht, aber ob sie was bringen würde, steht auf einem anderen Blatt. Denn der wirkliche Kandidat scheint mir vor allem der Vater zu sein, so wie er beschrieben wird: sehr dominant und egozentriert. Er scheint es zu vermeiden, Zeit mit seiner Tochter allein zu verbringen, erwartet aber auf der anderen Seite, dass sie Teil seiner neuen Familie wird. Und noch viel mehr als das: Er erwartet von seiner Lebensgefährtin, dass sie eine Rolle im Leben seiner Tochter übernimmt.
Das alles erinnert mich sehr stark an das konservative Muster von Familie: Die Mutter kümmert sich um Haushalt und Kinder; der Mann arbeitet, trifft die Entscheidung und ist ansonsten kaum präsent. Der Seitensprung seiner Ehefrau damals würde bei diesem Szenario einen Angriff auf seine Position, um nicht zu sagen Authorität, innerhalb dieses Musters erzeugt haben, möglicherweise angereichert mit einer Portion von Schuldzuweisung an seine ehemalige Ehefrau in Bezug auf die Tochter und dem Drang, "es ihr beweisen zu wollen" - was dann wiederum zu der Erwartung führt, dass seine jeztige Partnerin eben diese Rolle übernimmt. Und damit auch seine Tochter. Da passt dann auch rein, was in sehr vielen von Kikkis Postings deutlich wird, nämlich, dass er nicht dazu bereit ist, anzuerkennen, dass diese Gleichung nicht funktioniert, und das vermutlich auch, weil er seiner Partnerin nach den Erfahrungen mit seiner Ehefrau misstraut: Er versucht doch so hart, seiner Tochter ein guter Vater zu sein; deshalb kann es, dass nicht funktioniert, nicht an ihm liegen.
Das ist ein mögliches Szenario von einigen, die mir möglich erscheinen, und das Problem ist, dass aus der Ferne eine genau Aussage unmöglich ist. Es wird vermutlich auch unmöglich sein, irgend jemanden dazu zu bringen, eine Therapie zu machen, so lange die Betreffenden nicht die Notwendigkeit dafür sehen. Dass eine Therapie der Tochter etwas nachhaltig an der Situation verändern würde, bezweifele ich nach wie vor: Wenn es um Liebe und Abhängigkeit von anderen Menschen, vor allem bei Kindern und Jugendlichen geht, erlangt eine Therapie sehr schnell eine Rolle, die die Betroffenen einfach nur nach den Vorstellungen von anderen formen soll (wobei das meiner Erfahrung nach meist der Fall bei jüngeren Jugendlichen ist) oder die einfach nur, was sehr viel öfter der Fall ist, einen rein theoretischen Stellenwert hat, so lange man die Zusammenhänge, die ein bestimmtes Verhalten auslösen, nicht durchbricht.
Natürlich kann man jetzt sagen, dass das Problem, wenn die Tochter nicht so wäre, wie sie ist, wenn sie da ist, nicht aufgetreten wäre, denn ansonsten ist an der Oberfläche ja alles in Ordnung, oder wenigstens verkraftbar. Aber auch da taucht der Vater wieder als Schlüsselfigur auf: Wenn jemand vorschlägt, dass die Tochter mal zum Therapeuten geht, dann ist das so, als würde man ihm das sagen, was ihm schon mehrmals gesagt wurde, nämlich dass es so nicht geht, und man wäre wieder an dem Punkt, an dem der Vater seiner Partnerin die Schuld zuschiebt - was in dem Fall dann mit großer Sicherheit die Aussage nach sich ziehen würde, dass die Partnerin die Therapie braucht.
Das bedeutet: Alle Wege führen über ihn. Und wenn jemand einen Vorschlag hat, wie man ihn erreicht, möge er oder sie bitte laut aufkreischen.
Um Meschuggene kümmern sich übrigens normalerweise Psychiater.
Viele Grüße,
Ariel