Liebe Anja,
ich hatte befürchtet, dass Du jetzt sauer bist, weil auch Du, Deine Persönlichkeit ins Spiel gebracht wurdest, und weil Du den Tipp bekommen hast, Dir Hilfe von außen zu holen. Du hast Recht: Früher gab es sowas nicht, aber früher war auch noch einiges anders. Die Familien waren größer. Der Zusammenhalt enger. Aber besser war es trotzdem nicht. Kindern wurde auch gerne mal die Seele kaputt geprügelt. Wollen wir lieber das?
Wenn Du uns fragst, was Du noch ausprobieren könntest, dann erwartest Du von uns nichts anderes, als dass wir Dir als Erziehungsberater fungieren. Über das Internet.
Das geht nicht.Ich kann Dir Tausend verschiedene Sachen nennen, die Du noch ausprobieren könntest, aber es würde Dir im besten Falle nichts bringen, und im schlechtesten Fall alles noch schlimmer machen: Nicht jede Methode ist für jede Situation geeignet, denn wir sprechen hier von Menschen, nicht von Computern (und glaube mir, es ist schon schwer genug, einen Computer zu reparieren, sagt der Techniker, der verzweifelt versucht, das Notebook meiner Sekretärin wieder in Gang zu setzen). Und Menschen reagieren auf manche Dinge völlig unvorhergesehen.
Um wirklich nachhaltig etwas empfehlen zu können, was bei Euch die Dinge besser macht, muss man sich Eure Lebenssituation anschaut: Wie Ihr wohnt. Wie Ihr miteinander umgeht. Man muss Sachen wie Fernsehgewohnheiten mit einbeziehen. Das kann nur jemand machen, der vor Ort ist, und der sich das alles anschauen und mit Euch durchsprechen kann.
Aus der Distanz kann ich nur nach dem urteilen, was Du uns mitteilst, und das ist natürlich immer sehr subjektiv und bruchstückhaft. Ich habe mich zum Beispiel gefragt, wie es sein kann, dass sich ein Grundschulkind 30 Minuten lang auf der Toilette aufhält, und wie die Schule darauf reagiert hat. Und mir ist aufgefallen, dass Du zwar Vorschläge sammelst, aber jeden Vorschlag dann sofort vom Tisch wischst - und zwar wirklich jeden. Ungeachtet dessen, ob sie nun geeignet sind, oder nicht, erklärst Du sie für ungeeignet. Wie willst Du es schaffen, die Situation alleine zu meistern, wenn Du zwar Vorschläge sammelst, aber jeden Vorschlag sofort weg wischst? Wenn Du die Situation alleine meistern könntest, hättest Du hier nicht um Rat gefragt. Es ist normal, sich angegriffen zu fühlen, wenn man in solch einer Situation dann auch noch Kritik zu hören oder zu lesen bekommt, und ich habe deshalb versucht, Kritik an Dir außen vor zu lassen, vor allem weil ich nicht kritisieren kann, dass eine Mutter, die mit ihrem Latein am Ende ist, nach Rat sucht. Das ist richtig so. Kritikwürdig ist, wichtige Dinge nicht sich heran zu lassen.
Ich habe Dir einen möglichen Erklärungsansatz gegeben, warum Deine Tochter so aggressiv sein könnte, und wie man damit umgehen könnte. Es ist leider so, dass man die Ursachen erkennen muss, wenn man ein Symptom los werden will. Man muss wissen, warum das Kind so wütend ist, und man muss wissen, warum der Sohn so lange schreit, weil er nicht im eigenen Bett schlafen will. Man kann nicht für jedes Fieber Antibiotika schlucken.
Aber ich befürchte, dass das genauso das ist, was Du im Moment suchst: Ein Medikament für eine Krankheit, die noch nicht diagnostiziert ist.
Viele Grüße,
Ariel