Mogelpackung aus der Milchflasche
26.04.2004 17:27 Uhr
China
Mogelpackung aus der Milchflasche
Bereits 13 Babys sind wegen minderwertiger Säuglingsnahrung gestorben, Unicef warnt vor katastrophalen Folgen.
Von Kai Strittmatter
Peking – Sie nennen es „Großkopf-Krankheit“ in China, weil der Kopf der Babys anschwillt, während der Körper verkümmert. 171 solcher Großkopf-Babys hat China inzwischen gemeldet, 13 Säuglinge starben bis zur vergangenen Woche in der südostchinesischen Provinz Anhui.
Sie verhungerten. Obwohl ihre Eltern und Großeltern sie regelmäßig mit Milchpulver fütterten. Das Pulver aber war wertlos: gefälschte Ware. Und die Käufer des billigen Zeugs waren arme Bauern, die es oft besonders sparsam anrührten. Was die Babys dann tranken, hatte am Ende zwar milchige Farbe, war aber wenig mehr als Wasser.
Der Skandal zieht immer größere Kreise. Am Montag meldeten die Staatsmedien, die Polizei habe 30 Leute verhaftet, die unter Verdacht stünden, das falsche Pulver verkauft zu haben. Die Regierung will nun den Anschein erwecken, alles in ihren Kräften Stehende zu tun. 40 verschiedene minderwertige Marken haben Inspektoren mittlerweile identifiziert, in acht Provinzen sind sie ausgeschwärmt, um Fabriken zu schließen, und die Stadt Fuyang, wo die meisten der Opfer herkamen, hat die kostenlose Behandlung von Kleinkindern versprochen.
Der Skandal aber hat China erschüttert – und viele fragen: Sind die Säuglinge wirklich nur Opfer raffgieriger Geschäftsleute? Schon seit einem Jahr nämlich berichten chinesische Medien über das gefälschte Milchpulver. „Wo waren die Behörden in dieser Zeit?“, fragt die Pekinger Abendzeitung. „Warum haben sie ihren Job nicht getan?“, sekundiert das Webportal Sohu.com.
Eine Frage allerdings fehlt in der öffentlichen Debatte – und glaubt man Unicef, ist es die entscheidende: Warum ist der Anteil der stillenden Mütter in China so dramatisch zurück gegangen, warum bekommen immer mehr Säuglinge stattdessen Milchpulver?
1998 gaben hier noch 76 Prozent aller Mütter ihren Babys in den ersten vier Monaten die Brust, heute sind es nur noch 64 Prozent. Das Pekinger Unicef-Büro warnt vor „katastrophalen Folgen“ für Chinas Kinder. „Es wird nun darüber geredet, dass man die Qualität des Milchpulvers verbessern müsse“, sagt Koen Vanormelingen, der Leiter der Gesundheitsabteilung im Pekinger Unicef-Büro. „Das aber ist die falsche Debatte. Das Drama ist, dass das Stillen zurück geht. Und dass Muttermilch-Ersatz sogar in Krankenhäusern propagiert wird.“
Ursache dafür ist in den Augen der Unicef das „aggressive Marketing“ der Milchpulver-Hersteller, die in ihrer Gier nach dem Markt von 19 Millionen Neugeborenen pro Jahr oft gegen den 1981 verabschiedeten – freiwilligen – „Internationalen Kodex über die Vermarktung von Muttermilch-Ersatzprodukten“ verstießen.
„Viele Krankenhäuser in China müssen sich selbst finanzieren“, erklärt Vanormelingen. „Da springen dann mancherorts Milchfabrikanten ein.“ Das „International Baby Food Action Network“ startete Anfang dieses Jahres eine Kampagne gegen den holländischen Hersteller Nutricia.
Dieser ist in China unter anderem vertreten mit Milchpulver der Marke „Küsse mein Baby“ und wollte seine Produkte bewerben mit kostenlos verteilten Musik- und Werbe-CDs. Mit diesen CDs „haben wir Gold in unseren Händen“, ließ sich der China-Direktor der Firma im holländischen Fernsehen zitieren. Die Firma verteidigte sich hinterher gegen die Angriffe, indem sie sagte, die CD solle keineswegs für Milchpulver, sondern für andere Babynahrungs-Produkte der Firma werben.
Unicef-Mann Vanormelingen meint in Anspielung auf Skandale aus früheren Jahrzehnten über Milchpulver-Vermarktung in Afrika, die internationalen Konzerne hätten generell „ihre Lektion gelernt“: „Ich bin mir aber nicht sicher, wie sehr sie ihre chinesischen Verkäufer im Griff haben, die auf Provisionsbasis arbeiten.“ Unicef hofft, die Tragödie möge als „Weckruf“ dienen. Nötig sei eine konzertierte Aktion, um das Stillen wieder auf das Niveau vergangener Jahrzehnte zu heben.
Gute Absichten – die allerdings manchen der Ärmsten nicht weiterhelfen. Die Opfer des jüngsten Skandals stammen fast alle aus mittellosen Bauernfamilien: Viele Eltern sind als Tagelöhner in die Stadt gezogen und haben ihre Kinder bei den Großeltern gelassen.
Der Großmutter aber bleibt im Regelfall nichts anderes übrig als der Griff zum Milchpulver. Weil sie sich jenes der westlichen Marken zu 50 Yuan (fünf Euro) das Pfund nicht leisten kann, ja nicht einmal das zu 10 Yuan der seriösen heimischen Firmen, wird sie wieder zur dubiosen Dose für fünf Yuan greifen. Und damit, wahrscheinlich ohne es überhaupt zu ahnen, ein hohes Risiko eingehen.