Hallo,
ich verfolge Deine Geschichte bereits eine ganze Zeit, und heute habe ich endlich mal den Kopf frei, Dir zu etwas zu schreiben. Bitte entschuldige, falls ich, ob es so sein wird, weiss ich noch nicht, während ich dies schreibe, dass eine oder andere Wort fallen lassen werde - leider gehören zu solchen Situationen meiner Ansicht nach immer mehrere Seiten.
Zunächst mal sage ich aber etwas über mich selber: Ich bin ein Mann. Und in meiner Familie leben neben zwei selbstgemachten Kindern fünf Jugendliche im Alter zwischen 14 und 17 Jahren, von denen sich einige auf verschiedene Arten vor ihren alten Familien geflüchtet haben: Der Jüngste ist zum Alkohol geflohen, der Zweitjüngste in eine Jugendgang, unser Ältester hat Straftaten begangen, weil er hoffte, dass man in seinem Vater wegnehmen würde, Und dann haben wir einen, unserer Drittjüngsten, der von seinen Eltern in ein Erziehungslager im Ausland verfrachtet wurde, auf dass er da nach dem Gusto seiner Eltern zurecht gebogen würde, in dem man seinen Willen bricht. Es sind Extrem-Fälle, ja, aber auch Fälle, die eines zeigen: Man kann sich Heranwachsende nicht so machen, wie man sie gerne hätte. Und beide Seiten, Eltern und Kinder, sind in ihren eigenen Bedürfnissen gefangen, die dann kollidieren, wenn Eltern sich über die Kinder stellen.
Wann fing Dein Junge an, unglücklich zu sein? Wir wissen es nicht, Aber ich werfe mal die Vermutung in den Raum, dass es mit dem Beginn der Pubertät einher ging. Denn Pubertät ist neben den körperlichen Veränderungen, und der damit einher gehenden Verunsicherung, wenn einem niemand da durch hilft, auch die Entwicklung einer eigenen Identität: Der liebe Kleine, der alles mit sich machen lässt, hört auf zu existieren, und wird durch einen Heranwachsenden ersetzt, der sich selbst sucht. Und das ist oft nicht das, was die Eltern für ihn wollen. Man fängt an, Entscheidungen zu treffen. Eigentlich wäre es die Aufgabe von Eltern, dabei anzuleiten, auf den "neuen" Sohn, die "neue" Tochter zuzugehen, statt Entscheidungen abzuwürgen und zu versuchen, sie durch die eigene Entscheidung von Vater und Mutter zu ersetzen.
Viele Deiner Postings lesen sich, als würdest Du genau das tun: Deine Entscheidung, Deinen Willen auf Deinen Sohn aufdrücken. Du bist verzweifelt, weil Du Dich in einer furchtbaren Situation befindest: Der kleine Junge, den Du auf die Welt gebracht hast, und groß gezogen hast, sagt Dir offen, dass er nicht mit Dir, mit Euch (über Deinen Mann wissen wir leider, wie oft in solchen Fällen wenig, weshalb jede Äußerung zu ihm reine Spekulation ist) zusammen leben will, dass er mit Dir, mit Euch nicht glücklich ist, dass er Dich, Euch nicht liebt. Mir scheint: Er fühlt sich von Dir, von Euch gefangen gehalten, ohne Möglichkeit zur Flucht, und die Drohung mit der Selbsttötung scheint mir vor allem dies zu sein: eine Drohung, eine Erpressung. Die Lösegeldforderung: Lasst mich frei. Es ist möglich, dass er einen Versuch unternehmen wird, um diese Forderung zu unterstreichen. Aber es unwahrscheinlich, dass er tatsächlich ernsthaft versuchen wird, sich das Leben zu nehmen. Dass er einen solchen Schritt im Moment unternehmen wird, bezweifle ich allerdings - im Moment reicht diese Drohung, um Dich auf Armeslänge zu halten. Und ich kann Dir nur raten, dort zu bleiben und vielleicht noch ein paar Schritte zurück zu weichen. Distanz wird Euch beiden gut tun: dein Sohn möchte nicht, dass Du auf die Eltern seiner Freundin zugehst - vermutlich hat er Sorge, dass Du ihm dieses Stück heile Welt kaputt machst, ganz gleich ob diese Welt wirklich so heil ist, wie er sie sich vorstellt.
Ist die Sorge berechtigt? Die Gefahr besteht, leider. Im Moment scheint es mir, dass Du Dich, so wie Du von Deinem Hass auf seine Neue, die Frau, die er als seine Ersatzmutter sieht, wie Du die Neue, die die er als seine Ersatzfamlie sieht, schlecht machst, dass Du Dich also wie eine Ex benimmst, die nicht einsehen will, dass es vorbei ist, und versucht, den Anderen zur Liebe, zum Bleiben, zu zwingen. Aber das geht nicht, es funktioniert nicht.
Natürlich habe Ihr, als Eltern, das Aufenthaltsbestimmungsrecht. Natürlich habt Ihr die Verantwortung. Aber wie wollt ihr in zwingen? Mit der Polizei, dem Jugendamt? Es wird nicht funktionieren: Die Sache wird dadurch nur noch weiter eskalieren.
Der Unterschied zwischen Eltern / Sohn und Ex-Partnern ist, und das ist ein großer Vorteil, wenn das Kind noch nicht so tief in den Brunnen gefallen ist, dass man es nicht mehr heraus hollen kann oder sollte, dass man wieder zueinander finden kann, wenn man es versucht. Eltern und Kinder können nicht ohneeinander, im Schlechten. Wie im Guten. Aber oft ist dazu eine Auszeit nötig, während der man wieder zueinander findet: Indem man, auch und vor allem als Eltern, seine eigenen Positionen überdenkt, seine Handlungsweisen an die Situation anpasst und auf seinen, verloren geglaubten, Sohn zugeht. Es ist ein harter Prozess, aber auch eine Chance: Viele Eltern, die das gemacht haben, sagen, dass sie sich selber auch glücklicher fühlen.
Für Dich würde das bedeuten, dass Du erstmal tief durchatmest, versuchst, Deinen Hass, Deinen Unmut zu überwinden, zu realisieren, dass vieles, was Du empfindest, aus Deinen eigenen Bedürfnissen heraus entsteht. Und dann solltest das, was Du momentan als Bedrohung für deine eigene Mutterrolle, die so ohnehin längst nicht mehr existiert, nämlich die andere Familie, die Freundin, als Chance betrachten: Die Erkenntnis, dass dort auch nicht alles gold ist, was im Moment glänzt, wird bei Deinem Sohn bald einsetzen - nämlich dann, wenn der Alltag kommt, dann, wenn ihm deutlich gemacht wird, dass das Leben dort nicht für immer ist. Denn ich vermute, dass diese Eltern die Sache etwas sehr anders sehen, als er.
Wie gesagt: Ich halte die Selbstmorddrohungen für einen Versuch, Dich fernzuhalten. Das solltest Du tun. Und aus der Distanz die andere Mutter anrufen, und rausfinden, was sie denkt - ohne es dem Sohn zu sagen. Nur um besser planen zu können.
Viele Grüße,
Ariel